Diese Serie hat versucht, wichtige Stationen im Entstehen des christlichen Glaubens nachvollziehbar zu machen: Jesu Botschaft vom Reich Gottes; seinen Tod am Kreuz; den Glauben an seine Auferweckung; die Verkündigung der jungen Kirche; die Bekehrung des Paulus; dessen Versuch zu verstehen, warum der Messias am Kreuz sterben „musste“. – Im letzten Teil geht der Blick nach vorne: Was erwartete die Urkirche von der Zukunft?

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Zauber des Anfangs
Impulse aus dem Neuen Testament

Teil 6 von 6

von Dr. Christoph Niemand

Um die Zukunftshoffnung der ersten Christen zu verstehen, müssen wir uns zuerst klarmachen, was für sie die Gegenwart bedeutete: Gegenwart, das war für sie nicht jener enge Flaschenhals, durch den die Zeit fließt und dabei von Zukunft zu Vergangenheit wird; nicht jener flüchtige Moment im unendlichen Strom von Geschichte, der sich nie festhalten lässt. Gegenwart war für sie vielmehr das, was Gott zu Ostern in unserer Welt schon einmal klargestellt hat; jene Situation, die auch in tausend Jahren noch gelten wird: Dass nämlich die Mächtigen unserer Welt Jesus nicht hatten totkriegen können, sondern dass der Gekreuzigte zum Inbegriff von Leben überhaupt geworden ist. Und weil die Menschen in allen Ländern, Gesellschaften und Kulturen wissen sollen, was Sache ist, darum ist die Gegenwart vor allem eines: Zeit zur Ansage von Ostern.

Ansage und Projekt 
Die Osterbotschaft ist aber nicht nur eine Ansage. Es reicht ja nicht, dass die Kirche bloß behauptet, im Weg Jesu sei die Zukunft schon Gegenwart geworden. Das Bekenntnis, dass Jesus den Weg zu Heil, Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen bereits vor-gezeichnet hat und vor-gegangen ist, braucht auch Erfahrung und Einlösung. Andernfalls wäre der Glaube bloße Ideologie. Und deshalb ist die Osterbotschaft bis heute nicht nur Ansage, sondern auch Projekt, Experiment und Aufgabe: Denn überall, wo sich Menschen „im Namen Jesu“ (Apg 3,6.16; 4,10.12) aufrichten, wo sie geheilt oder befreit, versöhnt und zu einem menschenwürdigen, liebesfähigen Leben ermächtigt werden, realisiert sich die österliche Ansage, dass die Zukunft schon Gegenwart geworden ist. Wir Christen brauchen solche Erfahrungen wie das tägliche Brot: für uns selber und zum Teilen mit anderen.

Ankunft 
Wenn die Gegenwart also der Raum ist, in dem die Osterbotschaft gilt, in dem sie gesagt und erfahren werden soll – was erwarteten die ersten Christen dann von der Zukunft? Die Antwort liegt auf der Hand: Sie ersehnten den Übergang vom Glauben zum Schauen. Sie hofften, dass die ersten – aber doch immer nur fragmentarisch und vorläufig bleibenden – Erfahrungen des österlichen Heils, die sie im Namen Jesu machten, einmal definitiv und endgültig würden. Sie sehnten sich danach, dass die immer noch reale Wirklichkeit von Bosheit und Egoismus, von Gewalt und Unterdrückung aufhöre, ihnen wie ein ständiger Gegenwind ins Gesicht zu blasen. Wie aber kann das geschehen?
Dadurch, dass aus der Gegenwart Zukunft wird. Und das ist dann, wenn Jesus, der Gekreuzigte, den Gott zu sich erhöht hat, kommt: als Richter und Vollender. Deshalb ist im Neuen Testament das wichtigste Wort für Zukunft „Ankunft“. Im 1. Thessalonicherbrief (5,23–24) lesen wir:

„Er selbst, der Gott des Friedens, heilige euch ganz und gar und bewahre euren Geist, eure Seele und euren Leib unversehrt, damit ihr ohne Tadel seid bei der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus. Gott, der euch beruft, ist treu; er wird es tun.“

„Ankunft“ übersetzt das griechische Wort parousía, das lateinische dafür ist adventus. Der griechische Ausdruck bedeutet wörtlich „Da-Sein“, „Anwesenheit“, der lateinische „An-kommen“. Die Zukunft beginnt für uns also dann, wenn Jesus ganz angekommen ist. Das ist dann, wenn seine Liebe so gegenwärtig geworden ist, dass sie die Welt gerichtet – zurecht gerichtet, „hergerichtet“ – hat.

Offenbarung und Erscheinung 
Das Neue Testament verwendet noch andere Worte, um auszudrücken, was für uns Zukunft bedeutet: „Offenbarung“ und „Erscheinung“. Die Grundbedeutung des ersten kennen wir bereits: „Ent-hüllung“, „Ent-deckung“. Das zweite ist selbsterklärend. Zukunft ist also dann, wenn unverhüllt und unübersehbar in Erscheinung getreten ist, dass keiner der Mächtigen und Super-Reichen dieser Welt zum Anführer des Lebens taugt, sondern nur Jesus, der Gekreuzigte. Deshalb heißt es im 1. Korintherbrief (1,7) und im Titusbrief (2,13), dass wir ...

„auf die Offenbarung unseres Herrn Jesus Christus …“ und „auf die selige Erfüllung unserer Hoffnung warten: das Erscheinen der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Retters Christus Jesus.“

Zur Zukunft gehört aber auch, dass wir mit ihm offenbar werden. Zukunft ist, wenn wir Christen endlich aufgehört haben werden, uns selber im Weg zu stehen. Dann wird alle Welt an uns ent-decken können, was christliche Existenz eigentlich ist: Sein wie Jesus. Sohn oder Tochter Gottes. Was Paulus im Römerbrief (8,19.21) sagt, ist keine Kleinigkeit:

„Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne und Töchter Gottes. … Denn auch sie, die Schöpfung, soll von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes.“

Zukunft ist, wenn klar geworden ist, was seit Ostern schon gilt.

Dr. Christoph NiemandDr. Christoph Niemand
ist Universitätsprofessor der neutestamentlichen Bibelwissenschaft
an der Katholischen Privat-Universität Linz.
Zu seinen Veröffentlichungen zählt das Buch
„Jesus und sein Weg zum Kreuz“.

(aus dem KirchenBlatt Nr. 44 vom 2. November 2017)