Am Sonntag ist der "Welttag der Armen". Grund genug, neben der Aufmerksamkeit für die Armutsbekämpfung im Inland den Blick auch auf Menschen zu richten, die in anderen Teilen Europas und der Welt unter schwierigsten Bedingungen ums Überleben kämpfen. Zu ihnen gehören Zinaida und ihre vier Kinder in Micauti in der Republik Moldau, 1.500 Kilometer östlich von Vorarlberg. Eine Reportage.

Text und Bilder: Dietmar Steinmair

Zinaida lebt mit ihren vier Kindern in einem Haus in Micauti im Rajon (Bezirk) Straseni. Bis nach Chisinau, Hauptstadt der Republik Moldau, sind es eigentlich nur 30 Kilometer. Mit dem Auto braucht man dennoch fast eine gute dreiviertel Stunde dorthin. Nicht weit außerhalb der Hauptstadt beginnen nämlich die breiten, aber unbefestigten Straßen Moldaus, Slalomfahren zwischen Schlaglöchern inklusive.
Das kleine, niedrige Haus hat Zinaida vor einigen Jahren gekauft, nachdem sie von ihrem Bruder von daheim vertrieben worden war. Außer dem Kaufbeleg hat sie keinerlei Dokumente zum Haus, Grundbuchs-Eintragungen gibt es keine. Es kann also sein, dass irgendwann jemand kommt und Anspruch auf das Grundstück erhebt. Der Begriff „Haus“ meint hier, dass es zwei Räume mit Wänden drumherum und ein Dach aus Wellblech gibt. Das Dach hält dem kommenden Winter hoffentlich stand. Aber in dem Raum, in dem neben dem Herd ein kleiner Kasten und zwei Betten stehen, hängt die Decke über dem Kücheneck bedrohlich tief. Gut möglich, dass sie jederzeit einstürzt, es gibt immer wieder kleinere Erdbeben in diesem Teil Moldaus.
Zu Besuch bei dieser Roma-Familie sind wir mit Irene Rohringer von Concordia. Die Waldviertlerin ist seit rund zehn Jahren für die von P. Georg Sporschill ins Leben gerufene Organisation in Moldau tätig. Zusammen mit der Sozialarbeiterin Nadja, die zur Hälfte von der öffentlichen Hand und zur Hälfte von Concordia bezahlt wird, spricht sie mit der Roma-Mutter. Ihr Sohn hat eine Pilzerkrankung am Kopf und darf darum seit Wochen nicht in die Schule. Den Bub und seine drei Schwestern hatte die Hilfsorganisation heuer schon mit Schulmaterialien unterstützt. Für die Medikamente, die ein Arzt für den Jungen aufgeschrieben hat, muss Zinaida extra nach Transnistrien fahren, den von der Republik Moldau abgespaltenen Teil des Landes. Die beiden Concordia-Mitarbeiterinnen raten ihr dringend, einen weiteren Arzt zu konsultieren, denn die Medikamente scheinen ihre Wirkung zu verfehlen. Außerdem haben sie schon mit dem Bürgermeister geredet, der zusammen mit Concordia helfen soll, die einsturzgefährdete Decke zu reparieren. Die Mutter erhält zwar Sozialhilfe vom Staat und verkauft Dinge auf dem örtlichen Markt. Aber für die Verbesserung der Wohnsituation reicht das auf keinen Fall. Concordia wird sich an den Materialkosten beteiligen, die Mutter muss aber auch ihren Beitrag leisten und die Arbeiter verköstigen. Auch eine Hilfe in Form von Brennholz für den kommenden Winter ist angedacht.

Winter am Rand Europas 

Moldau November 2017 - ZwischenstoppDie nächsten Monate werden die Mitarbeiter/innen von Concordia wieder mit vielen Fällen konfrontieren, die für das (Über-)Leben in Moldau normal sind. Für alte Menschen oder für Mütter mit ihren Kindern stellt sich im Winter bei bis zu minus zwanzig Grad oft nur eine Frage: Essen oder Kleidung oder Brennholz? Nur für eines reicht es. Darum sind die Anlaufstellen der Hilfsorganisation wichtig für das Sozialnetz, vor allem im ländlichen Bereich: Neun Sozial- und Familienzentren sowie 25 Suppenküchen betreibt Concordia in der Republik Moldau und ist mit seinen insgesamt 36 Standorten die größte Nicht-Regierungs-Organisation (NGO) im Land.
Moldau liegt am Rand Europas. Seit 1991 ist die ehemalige Sowjet-Republik mit dem russischen Namen "Moldawien" unabhängig, und ebenso lang ist Moldau schon in der Klemme zwischen dem rumänisch-europäischen und dem russischen Einfluss. Das Land ist zerrissen zwischen Annäherungsversuchen an die EU und Sowjet-Nostalgie. Die politischen Spannungen zeigen sich derzeit deutlich zwischen dem prorussischen Präsidenten Igor Dodon und dem proeuropäischen Ministerpräsident Pavel Filip. In der Klemme ist die Region aber auch, weil die Republik Moldau wirtschaftlich derart hinterherhinkt, dass jeder, der nur irgendwie kann, das Land verlässt, um im Ausland Arbeit zu finden.
Moldau November 2017 - FortgehenVon den ehemals 4,2 Millionen Moldawiern leben heute 700.000 Menschen im abgespaltenen Transnistrien, aber nur mehr rund 2,2 Millionen in der Republik Moldau selbst, erläutert Otilia Sirbu, Länder-Koordinatorin von Condordia. Die NGO, die 1991 in Rumänien für Straßenkinder gegründet worden war, ist seit 2004 im Land zwischen Dnister und Pruth tätig. Weit mehr als eine Million Moldauer/innen arbeiten als Bau- und Industriearbeiter, als Pflegerinnen und Reinigungskräfte vor allem in Russland und Rumänien, aber auch in Griechenland, Italien, Spanien oder Belgien. Weil die Jungen fortgehen, bleiben die alten Menschen und die Kinder zurück. Zwar machen die Zuwendungen der im Ausland lebenden Verwandten rund ein Viertel des gesamten moldauischen BIP aus, doch für viele Zurückgelassene reicht das kaum zum Überleben. Manche hören von ihren Söhnen und Töchtern bzw. Vätern und Müttern nie mehr wieder etwas. Besonders in den Dörfern ist die Situation schlimm.

Mit Spendengeldern aus Österreich und Deutschland greift Concordia diesen Menschen unter die Arme. Kinder bekommen nach der Schule ein warmes Essen und können ihre Hausaufgaben machen. Alte Menschen erhalten in den Suppenküchen ebenso warme Mahlzeiten und nehmen am Heimweg oft auch etwas für die kranke Nachbarin mit. In einigen Zentren gibt es auch Zimmer, in denen alte Menschen im Winter vorübergehend unterkommen, um nicht in der eigenen baufälligen Behausung zu erfrieren.

Hilfe zur Selbsthilfe

Moldau verfügt über sehr viel fruchtbaren Boden. Einstmals als „Gemüsegarten“ der Sowjetunion bekannt und ebenso berühmt für seinen Weinbau, fährt man heute kilometerweise an brachliegenden Flächen entlang, die zunehmend verwildern. Eine völlig verpfuschte Landreform nach der Wende, aus der unzählige, weit verstreute Kleinstgrundstücke resultierten, mangelnde Technik und vor allem mangelnde Arbeiter behindern die Landwirtschaft. Lebensmittel sind knapp. Viele Moldauer leben von dem, was sie rund um ihr Haus anbauen.
Moldau November 2017 - FlorinaDa die kleinen Subsistenzwirtschaften oft zu wenig abwerfen, um eine Familie mit Kindern zu ernähren, unterstützt Concordia Kleinbauern mit Nutztieren, etwa Kühen, Hennen und Gänsen. Zu ihnen gehört auch Maria Mutelica. Die 36-Jährige lebt in Hulboaca nahe Ghetlova im Bezirk Orhei und hat mit ihrem Partner Gheorghe sieben Kinder im Alter zwischen 1 und 19 Jahren. In ihrem Hof steht das Kälbchen Florina, das Maria zusammen mit einer Kuh erhalten hat. So kann sich die Familie selbst mit Milch versorgen. Die Mutterkuh ist trächtig und gerade auf der Weide. Vertraglich ist zwischen Maria und Concordia festgelegt, dass das erste neugeborene Kalb an die Hilfsorganisation zurückgeht. Es wird einer weiteren Familie überlassen. Alle weiteren Kälber kann Maria Mutelica behalten. Darauf lässt sich aufbauen. Heuer hatte die Familie zudem Wetterglück: Auch wenn der moldauische Sommer bis zu 40 Grad heiß werden kann, hat es ausreichend geregnet für die Ernte.
Moldau November 2017 - Maria MutelicaIm vergangenen Jahr hat die Familie mit den Zwillingen Andrian und Danils Zuwachs bekommen. Die neun Personen leben in einem bescheidenen Haus, durch das Wellblechdach kann man den Himmel sehen. Maria und ihr Partner haben das Haus selbst erweitert, können es aber nicht fertigstellen, weil das Geld fehlt. Der Vater hat keine dauerhafte Arbeit, er ist nur zeitweise als Tagelöhner beschäftigt. Neben der Kuh und dem Kalb unterstützte Concordia die Familie mit Kleidung und Schuhen für die Kinder. Beim heutigen Besuch hat Irene Rohringer für die Zwillinge Stofftiere mitgebracht.

Licht statt Schnaps

Einen Vater, der noch im Land lebt, haben zum Glück auch Andriana (14), Mihaela (16) und Silvia (19) Stratan in Mîndresti, 90 km nordwestlich von Chisinau. Die Mutter ist vor fünf Jahren gestorben. Der Vater arbeitet als Tagelöhner und Traktorfahrer in einer Landwirtschaft. Im Winter repariert er bei Bedarf Autos. Bezahlt wird er dafür oft auch in Sachleistungen. Das Getreide, das er etwa vom Bauer für seine Arbeit erhält, verkauft er, um Kleider für seine Töchter zu bekommen. Die drei Schwestern und ihr Vater wohnen in einem Haus, das neben einer Abstellkammer nur einen Wohnraum hat, wieder mit zwei Betten und einem Herd. Im Sommer wird draußen gekocht. Auf einem kleinen Acker vor dem Haus werden Kartoffeln und Zwiebeln angebaut.
Moldau November 2017 - SuppenkücheDie Betreuung durch Concordia nach dem Tod der Mutter hat die Familie stabilisiert. Der Vater gibt das wenige Geld nicht - wie viele andere - für Alkohol aus. Er hilft sogar in der „Casa Nadejda“ der Hilfsorganisation in Mîndresti mit, wo seine jüngste Tochter nach der Schule hingeht. Das Sozialzentrum ist im ehemaligen Arztambulatorium untergebracht. Ein Klo gibt es nur im Garten. Dafür hat das Haus mehrere Räume, das Büro der Concordia-Mitarbeiterin, einen Raum zum Essen, einen zum Handarbeiten mit den Kindern. Irene Rohringer hat einen Stoß alter Illustrierter mitgebracht. Die Kinder basteln damit oder machen aus Stoffresten Puppen. In der großen Küche steht der Suppentopf auf dem Herd. Heute gibt es Kartoffelsuppe mit Makkaroni-Einlage. Wir dürfen probieren. Sie Suppe duftet gut, gesalzen ist sie kaum. Auch von dieser Küche aus werden alte Menschen im Dorf versorgt.
Suppenküchen und Sozialzentren stellt Concordia nicht einfach irgendwo hin. Im Regelfall eröffnet die Organisation einen Standort erst dann, wenn die Gemeinde vor Ort sich mit mindestens 20 Prozent der Kosten beteiligt. So ist gewährleistet, dass die örtlichen Behörden die Arbeit unterstützen.
Auch in Mîndresti nimmt die Bevölkerung ab, weil die Jungen ins Ausland gehen, erzählt Bürgermeister Vassili Sokolovski, der später im Sozialzentrum vorbeischaut. Nur wenige Menschen finden Arbeit im nahegelegen Telenesti, dem Hauptort des gleichnamigen Rajons. In Mîndresti gibt es auch rund 40 Roma-Familien. Sie seien gute Arbeiter, sagt Sokolovski, und gut integriert. Die größten Anliegen des Bürgermeisters sind im Augenblick das neue Arztzentrum und der Gasanschluss. Geld aus der Hauptstadt gibt es nur pro Einwohner. Weil aber immer weniger Leute im Dorf leben, muss die Gemeinde selbst Einkünfte erwirtschaften. Sie verpachtet Land, um Mittel für die Straßenbefestigung und den Gasanschluss zu bekommen. In Mîndresti sind fast alle Häuser - noch aus Sowjet-Zeiten - mit Stromzuleitungen erschlossen, oft aber fehlt der Anschluss ans Netz - aus Kostengründen. Der Bürgermeister organisiert derzeit LED-Lampen für die Bewohner. Eine solche Lampe kostet 10 Lei, umgerechnet 0,5 Euro - so viel wie ein Glas Schnaps, wie Sokolovski dazusagt.

Reformen vor den Wahlen?

Im Verhältnis zu den Einkommen sind in Moldau Alltagswaren sehr teuer. Die durchschnittlichen Monatsgehälter liegen bei umgerechnet 100 bis 300 Euro. Dennoch kostet ein Liter Milch 1 Euro, ebenso viel kosten  ein Liter Sonnenblumenöl oder ein Liter Sprit. Die durchschnittliche Pension beträgt in Moldau gar nur 70 Euro. Es gibt viele Pensionisten, aber nur wenige, die ins Sozialsystem einzahlen. Ein Drittel der Bevölkerung arbeitet ja im Ausland und zahlt - falls überhaupt gemeldet - dort ins System ein. Die Regierung versucht daher, mit den Staaten, in denen besonders viele Moldauer arbeiten, Vereinbarungen bezüglich der Pensionen zu treffen, wie Stela Grigoras bestätigt. Sie ist Ministerin für Gesundheit, Arbeit und Soziale Sicherheit in der Regierung Filip. Untergebracht ist das Gesundheitsministerium in einem nicht mehr gebrauchten Flügel eines Kinderhospitals in Chisinau.
2018 stehen in der Republik Moldau Parlamentswahlen an. Mit den Gesundheits- und Pensionsreformen, die dringend notwendig wären, kann die derzeitige Regierung die Wahlen aber nur verlieren. Palliative Care, mobile Gesundheits-Teams, die Auflösung großer psychiatrischer Krankenhäuser, die Schließung von Waisenheimen und die Umsiedelung in Pflegefamilien, die Behandlung psychischer Krankheiten nicht mehr nur auf medikamentöser, sondern auch auf psychosozialer Ebene, all diese Themen müssten laut Grigoras dringend angegangen werden. Zuletzt hat die Regierung zumindest durchgesetzt, dass Jungärzte nach ihrer Ausbildung deutlich mehr bezahlt bekommen, damit sie nicht sofort nach Rumänien abwandern.
Die soziale Arbeit von Concordia - gerade im ländlichen Bereich - bezeichnet die Ministerin als unverzichtbar. Auch weil die Organisation nahezu im ganzen Land tätig ist. Grigoras, die selbst 20 Jahre in einer NGO gearbeitet hat, setzt auf die Kooperationen zwischen Concordia und den Behörden in den Rajons. Diese regionalen Selbstverwaltungen haben zwar die Verantwortung für das Leben vor Ort - aber keine Budgets dafür.
Umso wichtiger ist das Knüpfen des sozialen Netzes. Damit den Menschen in Mîndresti, Hulboaca und Micauti die Decke nicht auf den Kopf fällt.

Die Recherchen zu dieser Reportage erfolgten auf einer Pressereise in die Republik Moldau. Sie fand auf Einladung von Concordia in der vergangenen Woche statt.

Welttag der Armen

Am 19. November findet erstmals der „Welttag der Armen“ statt. Papst Franziskus hatte den Welttag vor einem Jahr beim Abschluss des „Jahres der Barmherzigkeit“ eingeführt und will damit den Fokus stärker auf Menschen am Rand der Gesellschaft rücken. In Österreich gibt es rund um den „Elisabeth-Sonntag“ neben einer Kollekte für Notleidende im Inland zahlreiche Initiativen, die nachhaltig auch Armut im Ausland bekämpfen. Eine davon sind die Concordia Sozialprojekte, gegründet 1991 vom Vorarlberger Jesuitenpater Georg Sporschill. Nachdem sich P. Sporschill 2012 aus der operativen Leitung von Concordia zurückgezogen hat, ist der aus Hohenems stammende Jesuit P. Markus Inama im Vorstand von Concordia tätig. Nach vielen Jahren der Hilfe für Straßenkinder im rumänischen Bukarest ist Concordia seit 2004 auch in der Republik Moldau und seit 2008 in Bulgarien tätig.
Mehr unter www.concordia.or.at

(aus dem KirchenBlatt Nr. 46 vom 16. November 2017)