Die Präsenz von Roma-Familien führte im vergangenen Jahr zu hitzigen und emotionsgeladenen Debatten im Land. Um diese zu versachlichen und mehr über die Notreisenden zu erfahren, gab das Land Vorarlberg eine Studie in Auftrag. Die Ergebnisse sind erhellend und machen manch gängige Vorstellung zum bloßen Mythos.

Patricia Begle

Die Studie umfasst neben einer quantitativen auch eine qualitative Untersuchung. Das macht sie zu einer besonderen. Es wurde nicht nur gezählt, sondern auch mit den Betroffenen gesprochen. Dafür konnten eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter gewonnen werden, die Romanes, die Sprache der Roma sprechen. Sie begleiteten die Notreisenden im Alltag und führten mit 16 Personen Interviews. Es ging darum, „die Lebenswelt von 'innen heraus' zu beschreiben“, erläutert Erika Geser-Engleitner, Professorin an der FH und Leiterin der Untersuchung. So wurden 16 solcher Lebenswelten erhoben und mit wissenschaftlicher Theorien sowie Erfahrungen aus sozialen Instituionen in Vorarlberg und Rumänien verflochten.

Herkunft

Die Notreisenden kommen aus Rumänien. Wer die Lebensbedingungen dort kennt, weiß, dass sie trist sind. Trotz Wirtschaftswachstum gehört das Land zu den ärmsten der EU. Über 70% der ländlichen Bevölkerung, so heißt es in der Studie, leben unter der Armutsgrenze, 37% der Bevölkerung haben keine Toilette im Haus, 52% leben in überfüllten Haushalten. Wer gut ausgebildet ist, sucht sich einen Job im Ausland. Korruption gehört zum Alltag.
Die Roma sind keine homogene Gruppe. Die Vorarlberger Notreisenden zum Beispiel gehören zur Gruppe der traditionellen Roma. Äußerlich sind sie leicht zu erkennen: Die Frauen tragen lange Röcke und flechten ihr Haar zu speziellen Zöpfen. Ihr Platz in der rumänischen Gesellschaft ist unten, ganz unten. Jahrhundertelang wurden sie ausgegrenzt und diskriminiert. Bis heute. Das reicht von der Benachteiligung am Arbeitsmarkt über Schikanen bei Behördengängen bis zu jenen Ärzten, die ihnen die Behandlung verweigern.

Arbeiten und wohnen

Die Hälfte der befragten Notreisenden gab an, in erster Linie vom Sammeln und Verkauf von Metall, Flaschen und Papier gelebt zu haben. Frauen sind - dem traditionellen Frauenbild entsprechend - für die Betreuung der Kinder und den Haushalt zuständig. Deshalb werden Mädchen nur in seltenen Fällen eingeschult.
Neun der Befragten besitzen aktuell weder Wohneigentum noch ein Mietobjekt in Rumänien. Offiziell wohnen sie bei anderen, um eine Meldeadresse zu haben, welche Voraussetzung für einen Personalausweis ist. Fünf der Befragten haben ein eigenes Haus, zwei weitere ein Haus in Miete. Bei den Häusern handelt es sich um Objekte mit zwei oder drei Zimmern (Zwei-Zimmer Häuser haben ca. 12-20m²). Eine Befragte berichtet, dass sie mit acht Enkelkindern und sieben Erwachsenen in zwei Zimmern schlafen.

Ausweg

Die Not im eigenen Land veranlasst die Familien zur Suche nach Arbeit im Ausland. „Alle kamen mit der Illusion nach Vorarlberg, hier eine Arbeit zu finden“, erklärt Geser-Engleitner. Am europäischen Arbeitsmarkt ist jedoch die Zahl der nicht-qualifizierten Arbeisplätze sehr gering. Auch der Wohnungsmarkt entspricht nicht dem, was für die Armutsreisenden leistbar wäre. Deshalb leben die Familien in Vorarlberg auf der Straße und versuchen, ihr Geld mit Betteln zu verdienen. Ein bis 30 Euro pro Tag kommen dabei zusammen.

Schwierigkeiten

„Gesundheit ist ein riesiges Thema“, erläutert Geser-Engleitner. „75% der Befragten haben keine Krankenversicherung.“ Das Leben auf der Straße aber ist ungesund, deshalb „gehören Schmerzen dazu“, weiß die Soziologin. Gesundheitsprobleme sind aber nicht die einzigen Schwierigkeiten dieser Lebenswelt. Die ständige Unsicherheit, die Angst der Frauen vor Vergewaltigung, die Ablehnung seitens der Bevölkerung, die häufigen Kontrollen durch die Polizei - all dies macht den Familien das Leben hier schwer. Schwerer als es eh schon ist.

Politische Entscheidungen

Die Studie zeigt, dass viele Bilder, die in den Köpfen der Menschen hier im Land diffuse Ängste auslösen, nicht der Realität entsprechen. So regelt sich zum Beispiel der „Wirtschaftszweig“ des Bettelns großteils selbst. Für Vorarlberg bedeutet dies, dass mit 200 Bettelnden der „Markt“ voll ist. Mehr werden deshalb nicht kommen, erklärt Geser-Engleitner. Interessant ist auch die Auswirkung der Politik auf die Zusammensetzung der Gruppe der Notreisenden. Eine skandinavische Studie belegt, dass in Ländern, die strenge Gesetze gegenüber Bettelnden haben - wie zum Beispiel ein Bettelverbot, vor allem Allein-Reisende anzutreffen sind. Diese sind schnell und flexibel, können rasch untertauchen. Sie kommen im Überlebenskampf auch mit kriminellen Netzwerken in Verbindung. Familien aber reisen in Länder, in denen sie gedulet werden, wie zum Beispiel Schweden. Oder Österreich.

Sinnvolle Maßnahmen

Katharina WiesfleckerLandesrätin Katharina Wiesflecker erklärt in der Pressekonferenz, dass sie im Vergleich zum letzten Jahr in der Bevölkerung „einen Entwicklungsschritt wahrnimmt“ - hin zu mehr Akzeptanz. Sie hält es für sinnvoll, sowohl im Land als auch in Rumänien Maßnahmen zu treffen, die die Situation verbessern. So gibt es in Vorarlberg seit November zwei Sozialarbeiterinnen mit je einer 50%-Anstellung, die Kontakt halten mit den Notreisenden. Sie vermitteln auf beiden Seiten, informieren über Gesetze und Werte, unterstützen in schwierigen Fragen. „Sie leisten ausgezeichnete und wertvolle Arbeit“, so Wiesflecker. Was Rumänien betrifft, so verfolgt das Land Vorarlberg das Ziel, Kindern dort eine durchgehende Schulbildung zukommen zu lassen, um so die „Vererbung der Armut zu durchbrechen“. Hierfür wird in Zusammenarbeit mit Concordia Rumänien ein Projekt ausgearbeitet. Auch werden für den Winter wieder zwei Notschlafstellen geplant - eine im Oberland und eine im Unterland.

Umgang finden

Erika Geser-EngleitnerFür Geser-Engleitner ist das Phänomen der Notreisenden ein sehr komplexes. „Seit ich nicht mehr nach einer Lösung suche, kann ich gut damit umgehen“, erzählt sie von ihrer persönlichen Erfahrung. Veränderungen können lediglich in kleinen Schritten angestoßen werden. Der Lebensstil, der über Jahrhunderte gewachsen ist, wird sich nicht von heute auf morgen ändern, es braucht vielleicht Generationen. Und natürlich andere Rahmenbedingungen. Die Straßenzeitung „Marie“ ist für die Soziologin ein Beispiel dafür. Die Zeitungs-Verkäuferinnen finden dank dieser Tätigkeit ihr Einkommen ohne Betteln. Entscheidend sind für Geser-Engleitner zunächst Respekt und Akzeptanz. „Da reicht manchmal schon ein freundlicher Blick oder Gruß. Und wer will, kann mehr geben.“

 

Zur Studie

Auf zwei Fragen sollte die Studie Antwort geben: Wie viele Personen bettelten im Untersuchungszeitraum in Vorarlberg? Welcher Gestalt ist die Lebenswelt dieser Menschen? Mit der Durchführung der empirischen Untersuchung wurde Erika Geser-Engleitner beauftragt, sie ist Professorin für empirische Sozialforschung und Soziologie an der Fachhochschule Vorarlberg.

Quantitativ erhoben wurde Ende Februar und Mitte März 2016, jweils drei Wochen lang. Gezählt wurden an 23 Orten rund 200 Notreisende, davon ca. 40% Männer, 50% Frauen und  9% Kinder. Sie kommen ausschließlich aus Rumänien, aus Städten wie Ploiesti, Buzau, Brasov und Constanta.
Aus den Interviews ergab sich folgende Beschreibung ihrer Situation: Die Notreisenden suchen Arbeit und Wohnraum, der Großteil ist als Familie unterwegs, es gibt keine Hinweise auf „organisierte Bettlerbanden“, Kriminalität kommt - wenn überhaupt - nur in Form von Kleinkriminalität vor (Zahnpasta klauen, schwarz fahren, etc.).  Frauen können fast keine Schulbildung nachweisen, Männer haben die Schule durchschnittlich fünf Jahre besucht.

Entscheidend für den Umgang ist laut Studie, die "Akzeptanz, dass es bettelnde Notreisende gibt und geben wird". Ansatzpunkte für die Verbesserung der Notlage werden in vielen Bereichen gesehen: Information, Bildung und Betreuung, Wohnen (Sommer- und Winterangebote), Hygiene und Gesundheit (Waschmöglichkeiten, Medikamente, ärztliche Behandlung), Krankenversicherung (Kooperation mit NGO in Rumänien), Arbeit (Zeitungsverkauf, Arbeitsprojekte, regulärer Arbeitsmarkt).


Zum Nachlesen oder Downloaden finden Sie die Studie unter www.vorarlberg.at/soziales

Einen ausführlichen RTV-Bericht zur Pressekonferenz finden Sie hier.