Vergangene Woche besuchte Michael Landau Vorarlberg: Der Präsident der Caritas Österreich und Bischof Benno Elbs haben in Bregenz ihre aktuellen Bücher vorgestellt. Das KirchenBlatt traf Landau zum Interview. Heute, Donnerstag 27. Oktober, ist Landau zum Auftakt der Inlandskampagne der Caritas wiederum im Land. Er besucht Caritas-Einrichtungen und gibt gemeinsam mit Caritas-Bischof Benno Elbs und dem Vorarlberger Caritas-Direktor Walter Schmolly eine Pressekonferenz.

Interview: Dietmar Steinmair

Herr Landau, CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer sagte unlängst, der Begriff "Barmherzigkeit" gefalle ihm für einen Politiker nicht, das überlasse er besser den Kirchenleuten. Er sage lieber "Humanität" dazu. Ist Barmherzigkeit wirklich nur etwas für die Kirche?
Michael Landau: Wenn Politiker außer Streit stellen würden, alle Menschen zunächst als Menschen zu behandeln - und das heißt ja "Humanität" - dann wäre damit schon viel gewonnen. Zum Beispiel außer Streit zu stellen, dass Menschen auch dort, wo sie kein Asyl erhalten, menschlich behandelt und in ihrer Würde geachtet werden.
Ich glaube die Kirche ist hier in einer doppelten Weise gefordert: Zunächst im Einsatz für Gerechtigkeit. Und wenn alle Erfordernisse der Gerechtigkeit erfüllt sind, ist immer noch ein weiter Raum für die Liebe. So besehen ist die Kirche schon sehr gut beraten, beim "Tatwort" Barmherzigkeit zu bleiben, das nicht nur gesprochen, sondern gelebt werden will. Ich habe hier Johann Baptist Metz vor Augen, der sagt: "Es gibt kein Leid auf der Welt, das uns nichts angeht."

Hat die Kirche einen höheren Anspruch an sich und die anderen, als die Politik?
Landau: Ich habe dazu einen Gedanken eines meiner Lehrer: Der Glaube ersetzt nicht das Denken, aber er gibt zu denken. Ich bin keiner Politikerin, keinem Politiker neidig, heute Politik zu machen, aber zugleich muss sich jeder politisch Tätige vor Augen halten, dass es zuerst um Werte und um das Menschenbild geht. Das Bild von der gleichen Würde jedes Menschen verändert auch die Politik. Auch politisches Handeln meint mehr als das bloß pragmatische Suchen nach Mehrheiten, sondern dass es gemeinsame Ziele gibt, die anzustreben sich lohnt.
Es würde auch unserem Land guttun, einige Ziele außer Streit zu stellen und umzusetzen. Etwa wenn wir uns die Zukunft der Pflege ansehen, den Zugang zu leistbarem Wohnraum, oder das ganze Themenfeld der Arbeitslosigkeit, das ein Feld ist, das viele Menschen in Österreich bedrückt. Aber auch den Zugang zu Bildung für Kinder aus ­sozial schwachen Familien. Ich hielte es für ein lohnendes Ziel - über alle Parteigrenzen hinweg - sicherzustellen, dass jedes Kind in Österreich auf die Bildungsreise mitgenommen wird, damit keine Begabung verloren geht.
Um nochmals auf Ihre Frage zurückzukommen: Bei der Frage der  Repolitisierung der Politik kann der weite Horizont des Glaubens auch inspirierend wirken. Das Evangelium ist kein Parteiprogramm. Aber die Botschaft, dass die Gerechtigkeit in einer Gesellschaft daran Maß nimmt, wie sie mit den Schwächsten umgeht, und dass Aufmerksamkeit an den Rändern der Gesellschaft wesentlich ist, das ist auch aus dem Menschenbild des Evangeliums inspiriert.

Derzeit wird die Deckelung der Mindestsicherung heftig diskutiert. Wie sehen Sie das?
Landau: Ich unterstütze sehr stark das, was auch der Vorarlberger Caritas-Direktor (Walter Schmolly, Anm.) gesagt hat: Niemand kann wollen, dass aus kinderreichen Familien plötzlich Familien mit armen Kindern werden. Mit geringen Einsparungen würde hier viel sozialer Schaden angerichtet. Die Achtsamkeit und der Vorrang der Kinder und des Kindeswohls sind etwas Wesentliches für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft. Ich glaube, das ist ein Diskussionsbeitrag, den die Kirche und die Caritas schon einbringen können. Von daher auch mein Appell, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, das parteipolitische Hickhack hintanzustellen und sich um eine gemeinsame Lösung zu mühen. Das hat auch etwas mit dem sozialen Frieden in Österreich zu tun. Es gibt in unserem Land einen Konsens, dass wir nicht wollen, dass Slums entstehen oder dass Menschen im Müll nach Nahrung suchen.

In Ihrem Buch "Solidarität" schreiben Sie: "Was zählen wird, sind die Taten, nicht die Theorien. Kriterium für die Taten aber sind die anderen." Wer sind für Sie diese "Anderen?"
Landau: Ich möchte zunächst sagen, dass es bei uns ja einen guten sozialen Zusammenhalt gibt und einen funktionierenden Sozialstaat. Was wir aber sehen, ist, dass es Gruppen gibt, die verletzlich sind. Ich denke da an langzeitarbeitslose Menschen, an kinderreiche Familien, an Alleinerzieherinnen, an Menschen, die eine Erfahrung der Flucht oder der Migration hinter sich haben, an Mindestpensionisten. Ich glaube, dass dort Aufmerksamkeit nötig ist, auch im Wissen, dass mit den vorhandenen Mitteln sparsam umgegangen werden muss. Ich bin aber auch der Überzeugung, dass der Sozialstaat kein beliebig verschlankbares Anhängsel zum Wirtschaftsstandort ist, sondern ein notwendiger Ausdruck der Würde des Menschen und eine Investition in den sozialen Zusammenhalt.
Wirtschaft und Soziales gehören verantwortet zusammengedacht. Die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und die Qualität der sozialen Sicherheit sind zwei Pfeiler ein- und derselben Brücke. Diese Brücke braucht beide Pfeiler: Es gibt gute wirtschaftliche Gründe, auf das Soziale in einem Land zu achten, aber es gibt auch gute soziale Gründe, wirtschaftlichem Denken Raum zu geben.
Wir alle sind Verantwortungsträger. Wir tragen Verantwortung für uns selbst und für andere Menschen. Die Aufmerksamkeit dort, wo jemand konkret steht, ist durch nichts zu ersetzen - also die Bereitschaft hinzuschauen, wie es den Menschen in meiner Nähe oder auch ein Stück weit weg geht. Unser Tun und Lassen hat Konsequenzen im Lokalen, aber auch weltweit. Wenn ich weiß, dass Rosen, die in Äthiopien unter zum Teil unvorstellbaren Arbeitsbedingungen gezüchtet werden, auch für den europäischen Markt bestimmt sind, haben wir ein Stück Mitverantwortung. In einer zusammenwachsenden Welt spüren wir das. Man müsste hier von einer Globalisierung des Verantwortungsbewusstseins reden.

Wenn wir, wie von Ihnen angesprochen, von Österreich auf die Welt schauen: Welche Teile der Welt und welche Menschengruppen sind am meisten unter Druck? Wir sehen hier in Österreich zunächst einmal die vielen Flüchtlinge …
Landau: … ich würde bitte nie von "Flüchtlingen", sondern  von "Menschen auf der Flucht" reden, weil es zuerst um Menschen geht - so wie wir heute nicht von Behinderten sprechen, sondern von Menschen mit Behinderung. Da, glaub ich, geht es darum, dass die Aufmerksamkeit auch in der Sprache anfängt. Michael Köhlmeier etwa unterstreicht diese Wirkkraft des Sprechens.
Zu Ihrer Frage: Die weltweiten Zusammenhänge sind heute deutlich sichtbarer als früher. Was wir heute wahrnehmen, ist das Sichtbarwerden einer Wirklichkeit, vor der wir in Europa vielfach und eine Weile die Augen verschlossen haben. Zugleich sind die vergangenen Jahre auch eine Erfolgsgeschichte. Wenn ich an die Millenniumsentwicklungsziele denke, ist es gelungen, den Hunger und die Kindersterblichkeit weltweit deutlich zu reduzieren. Auch bei der Bildung ist einiges weitergegangen. Wir können etwas zum Positiven verändern. Und von daher halte ich auch die von den Vereinten Nationen im Vorjahr beschlossenen Sustainable Development Goals ("Ziele nachhaltiger Entwicklung", Anm.) für so etwas wie eine Roadmap zu weltweit mehr sozialer Gerechtigkeit. Da macht der Blick zurück durchaus zuversichtlich, dass es möglich ist, wenn wir es möglich machen wollen. Gerade hier kann ein kleines Land wie Österreich auch humanitär Größe zeigen.
Eine zweite Aufgabe, der wir uns noch ein ganzes Stück weit mehr stellen müssen - europäisch aber auch weltweit gesehen - ist die  Zukunft Afrikas. Der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller hat in den letzten Wochen immer wieder einen Marshallplan für Afrika gefordert, als Chiffre dafür, dass ein wesentlicher Teil der Zukunft Europas auch in Afrika entschieden wird. Wenn von österreichischen Politikerinnen und Politikern immer wieder Hilfe vor Ort eingefordert wird, hindert sie niemand daran, diese Hilfe auch zu leisten und sich im europäischen Verbund darum zu bemühen, dass Europa hier einen stärkeren Beitrag leistet. Denn wahr ist, dass mit den gleichen Mitteln vor Ort oft deutlich mehr möglich gemacht werden kann. Wir als Caritas sagen auch immer: Über die Nothilfe hinaus geht es darum, dass Menschen eine Perspektive für sich und ihre Kinder finden können, und dass die Menschen wieder auf den eigenen Beinen stehen und ihr Leben selbstverantwortet leben können.
Eine dritte Frage ist: Wie gestalten wir weltweit unsere Handelsbeziehungen? Geben wir den Bauern auf den lokalen Märkten eine faire Chance, auch mit ihren Produkten Fuß fassen zu können - oder gestalten wir die Handelsbeziehungen so, dass die Menschen mit ihren lokalen Produkten keine Chance haben gegen Produkte, die - stark gestützt - aus anderen Teilen der Welt, auch aus Europa nach Afrika gebracht werden.

Aus der Erfahrung wissen wir: Menschen ändern ihr Verhalten, wenn sie anderen Menschen in einer Notsituation persönlich begegnen und von dieser Situation berührt werden. Wie können wir dieses "Ins-Auge-Schauen" wieder lernen? Was kann der Einzelne tun?
Landau: Veränderung fängt oft im Kleinen und mit dem Hinsehen an. Das ist eine Wahrnehmung, die wir in der Caritas sehr oft haben: Dass auch große Projekte oft klein anfangen, mit einzelnen Menschen, die sagen: "Wir wollen etwas ändern." Ich glaube, als Caritas sind wir ein Stück weit  so etwas wie eine Sehschule: Wir machen Mut, hinzuschauen und nicht wegzuschauen. Eine der Kurzformeln der Caritasarbeit lautet: Not sehen - und handeln. Hier leisten auch die Pfarrgemeinden einen ganz wichtigen Dienst. Die Erfahrung, die ich mache, ist: Die Pfarren sind Kraftwerke der Solidarität und der Nächstenliebe, wo ungeheuer viel Gutes oft im Verborgenen geschieht.
Und das gilt vielfach auch für die Gemeinden, wenn ich an die herausfordernde Situation im Vorjahr denke, wie wesentlich der Einsatz engagierter Bürgermeisterinnen und Bürgermeister gewesen ist. Ich glaube, es hat im Vorjahr so etwas wie eine Renaissance der Zivilgesellschaft gegeben. Das brauchen wir auch im Blick nach vorne. Gerade in fordernden Zeiten halte ich es für wichtig, dieses Potential zum Guten zu sehen, das in den Menschen steckt, und sie zu ermutigen, ein Stück davon zu leben. Weil es eben auch mit frohem und gelungenem Leben zu tun hat.

Wie nehmen sie derzeit die Stimmung bei den Menschen wahr, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren?
Landau: Allein bei der Caritas haben sich im vorigen Jahr ca. 15.000 Freiwillige gemeldet, zusätzlich zu den 40.000 Freiwilligen, die davor schon aktiv gewesen sind. Ich weiß, dass ungeachtet der öffentlichen Diskussionen Tausende nach wie vor aktiv sind, Sprachkurse machen, Menschen begleiten, ihnen helfen, hier in Österreich auch anzukommen und Fuß zu fassen. Ich vermute, dass wahrscheinlich die Euphorie vor einem Jahr nicht ganz so groß war, wie manche es sich gewünscht hätten, aber ich glaube, dass auch die Depression heute bei Weitem nicht so groß ist, wie manche uns das glauben machen. Es ist gut, Menschen zu ermutigen, die sich engagieren, und miteinander - gerade in fordernden Zeiten - auf die Stärken zu setzen, die da sind. Und die Mitmenschlichkeit und die Solidarität in unserem Land sind Stärken, die da sind. Da warne ich davor, Emotionen zu schüren. Sondern es gilt, diesen Grundwasserspiegel der Solidarität zu sehen und zu stärken - und auch miteinander stolz darauf zu sein, was wir gemeinsam können, wenn wir es wollen.
Christian Konrad (Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung von August 2015 bis Ende September 2016, Anm.) hat aus Anlass seiner Abschlusspressekonferenz gesagt: "Wer will, der kann." Ich glaube, das wäre eine gute Haltung im Umgang mit so manchen sozialen Herausforderungen, die sich auch politisch Verantwortliche in ihr Stammbuch schreiben könnten. Wobei es mir Leid tut, dass die Bundesregierung glaubt, auf diese Erfahrungen und auch Vernetzungen des Flüchtlingskoordinators verzichten zu können. Denn klar ist: Das Thema Integration ist ein forderndes Thema und eine Aufgabe, der wir uns ganz entschieden stellen müssen in den kommenden Jahren. Je besser, klarer und auch nüchterner und entschiedener wir das tun, umso besser werden wir die Aufgaben, vor denen wir stehen, auch gemeinsam bewältigen.

Gibt es eine Frage, auf der Sie derzeit keine Antwort haben?
Landau: Ich habe in meinem Buch die Frage nach dem Leid angesprochen. Natürlich gibt es in der Welt Leid oder Ungerechtigkeit, wo einem der Atem stockt. Und wenn ich mich frage: "Habe ich darauf eine Antwort?", dann habe ich auch keine. Aber der Anspruch, den ich darin wahrnehme, ist, mich damit nicht abzufinden, sondern zu sagen: Hier dürfen wir nicht schweigen und hier sind wir gefordert. Vieles geschieht Schritt für Schritt. Vor einer Aufgabe, weil sie groß ist, stehen zu bleiben und zu sagen: "Das ist jetzt zu groß.", ist die verlässlichste Weise, sie nicht zu bewältigen. Jeder Weg fängt mit dem ersten Schritt an, und gerade in der Caritas sehen wir, wie viel manchmal mit einem kleinen Anfang in Bewegung kommt, wenn andere daraus Mut schöpfen.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Landau Solidarität BuchcoverAktuelles Buch:
Michael Landau: Solidarität. Anstiftung zur Menschlichkeit. Brandstätter Verlag 2016. Geb., 192 S. € 22,90.

 

 

(aus dem KirchenBlatt Nr. 43 vom 27. Oktober 2016)