Bereits seit sechs Jahren bringt das „teatro caprile“ das Stück „Auf der Flucht: Gargellen - Sarotla - Schweiz“ zur Aufführung. Im Gedenkjahr 2018 bot es einmal mehr Gelegenheit und Anlass, das Theater im Hochgebirge zu besuchen.

Dietmar Steinmair

An mehreren Wochenenden im heurigen Sommer haben die Schauspieler/innen des „teatro caprile“ ihre „partizipative theatrale Performance“ - wie die Macher/innen es selbst nennen - zwar nicht auf die Bühne, aber auf den Berg gebracht. Die Theaterwanderung dauert mehr als fünf Stunden, verlangt Schauspieler/innen und Zuschauer/innen die Überwindung von mehr als 500 Höhenmetern ab und lässt so auch körperlich spüren, worum es im Stück geht: um Flüchtlingsbiographien in der NS-Zeit.

Moderator der Theaterwanderung ist Friedrich Juen. Der Gargellner führt ins Thema ein und liest dazu einen Zeitungsbericht von 1938 vor. Mit Stolz wurde darin verkündet, dass bei der Abstimmung zum Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich im April 1938 100 Prozent der Gargellner mit „Ja“ gestimmt hätten. Heute, 70 Jahre später, klingt das erschreckend. Doch damals hat wohl auch die drohende Wiederaufnahme der Tausend-Mark-Sperre die Gargellner, die seinerzeit schon gut vom Tourismus lebten, vom Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland überzeugt, zumindest auf dem Papier.
Dass Juen die Besucher/innen auf der nun folgenden Wanderung bergan begleitet, kommt nicht von ungefähr. Juen engagiert sich schon seit vielen Jahren in der Aufarbeitung von Fluchtgeschichten in der NS-Zeit und hat bisher über dreißig Theaterwanderungen moderiert. Sein Großonkel Meinrad Juen hatte 42 Menschen (so viele sind zumindest überliefert) zur Flucht über die von Zöllnern und Soldaten bewachte Grenze ­hinüber in die rettende Schweiz verholfen. Doch auch in diesem Seitental des Montafons haben sich, wie an vielen anderen Orten an der Außengrenze des Deutschen Reiches, tragische Schicksale ereignet. Da waren etwa zwei junge jüdische Lehrerinnen, die oberhalb von Gargellen kurz vor der Grenze zu Graubünden gefangen genommen und ins Tal gebracht wurden. Im Kerker von St. Gallenkirch haben sie sich in der folgenden Nacht mit den Riemen ihrer Rucksäcke erhängt, weil sie wussten, wohin sie hätten gebracht werden sollen. An einer Stelle des Stücks sagt ein Jude zum anderen: „Hätte Mose uns nicht aus Ägypten herausgeführt, hätten wir jetzt einen englischen Pass!“

Immer wieder kamen Fluchtwillige - sich als Touristen tarnend - nach Gargellen, um Fluchthelfer zu kontaktieren und dann auf eine stockdunkle und im günstigsten Fall verregnete und nebelige Nacht zu warten. Auch die Theaterwanderer heute machen sich auf den Weg, schlängeln sich den steilen Pfad durch Schlucht und Wald nach oben. Bei der Alpe Rongg entdecken die Wanderer eine stumme Gestalt in der Mistgrube, die just aus dem Jahr 1938 stammt. Während eine zweite Schauspielerin Franz Werfel zitiert, quält sich die durchnässte und mit nur wenigen zerrissenen Kleidern bedeckte Gestalt über den Boden, versucht herauszukommen, fällt mehrfach zurück.
„Man muss schon Gottes Sohn sein, bespien, gegeißelt und gekreuzigt, um doch schön zu bleiben“, tönt es aus dem Hintergrund. Und: „Auch der Hass braucht Berührungspunkte, um sich zu entladen. Doch zwischen mir und denen gab es keine Berührungspunkte.“ Schließlich greifen - gänzlich unabgesprochen - zwei Zuschauerinnen ein und ziehen die Frau heraus, die über die Wiesen verschwindet. Den Wandernden stockt förmlich der Atem.

Zwei Nachkriegs-Montafoner sprechen weiter oben, auf der Unteren Röbialpe, über das Geschehen von damals. „I dr Bibel schtoht, 30 Münzen für den Judas. Z Gargella hätts zwomal 30 ge!“, sagt die Frau, die die Erzählungen ihrer Vorfahren immer noch beschäftigen. Die überlieferte Geschichte dahinter: Vermeintliche Fluchthelfer ließen sich von einem Mann namens Nikolaus Staudt alle seine Wertsachen geben - als Bezahlung für die Flucht. Kurz vor dem Gafierjoch schrien sie aber und flohen. Die so aufmerksam gemachten Grenzschützer setzten Staudt nach und schossen ihn an, als er noch zehn Schritte von der Grenze entfernt war. Um sich der Gefangenschaft zu entziehen, erschoss sich Staudt. Berichtet wird, dass der Tote dann an den Füßen talwärts gezogen und weiter unten verscharrt wurde. Als die Kunde davon nach Gargellen drang, brachten einige Bewohner den Leichnam ins Tal und begruben in bei stockdunkler Nacht um 10 Uhr abends auf dem örtlichen Friedhof. Das Grab gibt es heute nicht mehr, weil es aufgelassen wurde, ebenso wie es generell kaum Aktenmaterial zu den Ereignissen dieser Jahre gibt.
Auf der Oberen Röbialpe erreicht die Gruppe den höchsten Punkt der Wanderung. Ein Nazi verfolgt die zwei jungen Jüdinnen, die gerade noch einmal davonkommen und ihre Flucht fortsetzen können. Für die Zuschauer/innen ist nun Mittagszeit. Jeder hatte - noch im Tal unten - eine Sardinendose erhalten, eingewickelt in ein Zeitungs-Faksimile. Diese „Eintrittskarte“ in das historische Bergtheater erinnert an Jura Soyfer. Der Schriftsteller und spätere Autor des „Dachau-Liedes“ war am 13. März 1938, nur einen Tag nach dem Anschluss Österreichs, in Gargellen beim Versuch, in die Schweiz zu fliehen, von Zöllnern aufgehalten worden. In seinem Gepäck fanden sie eine Konservendose, eingewickelt in eine Seite einer Gewerkschaftszeitung. Die Zöllner, denen das verdächtig vorkam, brachten den angeblichen Touristen in den Dorfkerker von St. Gallenkirch. Über Feldkirch kam Soyfer dann ins KZ Dachau und später nach Buchenwald, wo er 1939 an Typhus starb.

Die Inszenierung lässt die Zuschauer/innen dann doch nicht ganz hoffnungslos und verzweifelt zurück. Bei der letzten Station erlaubt ein Schweizer Grenzbeamter - entgegen seinen Befehlen und als gerade niemand zusieht - zwei Flüchtenden doch noch den Übertritt nach Graubünden. Und schließlich kommen die beiden inzwischen gestorbenen Jüdinnen die Bergwiese herunter und singen auf Jiddisch: „Mir lebn eibig, mir sajnen do! - Wir leben ewig, wir sind da!“
Mit „Auf der Flucht“ bietet das teatro caprile engagiertes Theater. Der Zuschauer sieht nicht nur zu, sondern steht mittendrin, muss aufwärts schnaufen, wird von Fliehenden angesprochen und von Nazi-Schergen angebrüllt. Seit sechs Jahren schon bringen Roland Etlinger, Katharina Grabher, Maria King, Andreas Kosek, Mark Német und Moderator Friedrich Juen das Stück nun auf den Berg. An diesem Wochenende gibt es die letzten drei „Aufführungen“ für heuer, leider gibt es keine Karten mehr dafür. Es ist zu hoffen, dass das Stück auch nächstes Jahr gespielt werden wird. Bislang war noch jede Vorstellung mehr als ausverkauft. Für die Verbindung von engagierter künstlerischer Auseinandersetzung, regionaler Einbettung und überregionaler Bedeutung erhielt das teatro caprile 2016 den Innovationspreis von Vorarlberg Tourismus.

Ab 25. September 2018 gestaltet die Gruppe übrigens einen Theaterabend zur Ausstellung „Rudolf Wacker im Krieg“ im vorarlberg museum in Bregenz.

Mehr zum Stück „Auf der Flucht“ und zum Ensemble unter www.teatro-caprile.at

(Aus dem KirchenBlatt Nr. 35 vom 30. August 2018)