Paulus war Christ geworden und hatte sich der Verkündigung der Urgemeinde angeschlossen: Gott hat das Todesurteil des Pilatus ins Gegenteil verkehrt und Jesus auferweckt. Er ist eingesetzt zum Herrn über Himmel und Erde, Lebende und Tote. – Warum aber, so fragten viele in den ältesten Gemeinden, hatte Jesu Weg überhaupt ans Kreuz geführt? Hat er sterben „müssen“, und hat er gar „so“ sterben müssen?

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Zauber des Anfangs
Impulse aus dem Neuen Testament

Teil 5 von 6

von Dr. Christoph Niemand

Paulus war weder der Erste noch der Einzige, der darauf Antworten gesucht und gegeben hat. Aber seine „Theologie des Kreuzes“ ist das erregendste Beispiel dafür, wie die ersten Christen über den Sinn des Todes Jesu nachdachten: Am Kreuz kommen die extremsten Gegensätze ganz nahe zusammen, Jesu Tod schafft Leben. Auf dem langen Weg, den Gott mit den Menschen geht, war das Kreuz Jesu der entscheidende Wendepunkt gewesen. Denn erst mit der freien Hingabe seines Lebens in den Tod war jener Ort erreicht, an dem die Macht des Todes über uns bricht und erneuertes Leben beginnt.

Sünde und Tod
Gottes unausdenkliche Liebe musste bis dorthin vordringen, wo die Sünde alles Leben mit Lüge, Neid, Angst und Gewalt infiziert und uns Menschen mit dem Tod angesteckt hatte. Paulus war überzeugt: Wer vom Sterben-Müssen der Menschen sprechen will – und wie es womöglich überwunden werden kann –, der muss von der Sünde sprechen. Sonst ist man nicht am Punkt. Im Römerbrief (6,23a) sagt er:

„Denn der Lohn der Sünde ist der Tod, …“

Das stellt sich Paulus nun keineswegs so vor, als hätte Gott eine böse Freude daran, Vorschriften zu erlassen, um dann jene, die sich nicht daran halten, zu töten, weil er keine Missachtung seiner Autorität dulde. Paulus versteht die biblische Erzählung vom Sündenfall viel tiefer: Die Sünde begann, als die Menschen aufhörten, Gottes geliebte Geschöpfe sein zu wollen. Und da wir anfingen, uns selber Gott zu sein – von nichts und niemandem abhängig, Herr über Gut und Böse, „wie Gott“ (vgl. Gen 3,4.22) –, da fingen wir unweigerlich auch an, aus dem Leben heraus zu fallen und auf den Tod zu. Denn wir sind eben Menschen und nicht Gott.
Darum können wir nichts, am allerwenigsten uns selber, im Sein und am Leben erhalten. Und deshalb ist unser Sterben-Müssen auch nicht die Rache eines kleinherzigen Gottes, keine von ihm diktierte Strafaktion. Dass wir alle sterben werden, ist „Lohn“ der Sünde. Das griechische Wort opsônia bedeutet ursprünglich „Proviant“ (oder „Jause“) und wurde dann für den Lohn der Arbeiter und den Sold der Soldaten verwendet. Schließlich bedeutete es umgangssprachlich auch „Geld zum Einkaufen“ (oder „Jausengeld“) und das, was man dafür bekommt, den „Einkauf“. Paulus sagt also: Das, was wir Menschen uns „eingekauft“ haben, als wir anfingen, selber Gott sein wollen, war nichts anderes als der sichere Tod.

Der andere Adam 
Doch Gott – so denkt Paulus die Sündenfall-Geschichte weiter und auf Christus hin – hat es nicht zugelassen, dass sein geliebtes Geschöpf sich selber zerstört. Er sandte seinen Sohn, der das Gegenmodell zu Adam werden sollte, Urtyp einer neuen Menschheit. Jesu Art zu leben – und zugespitzt seine Art am Kreuz zu sterben –, ist der Widerruf jenes tödlichen Lebensstils, den wir alle von Adam angenommen haben. Nochmals im Römerbrief (5,12–21, hier V. 17a.18b) heißt es:

„Denn ist durch die Übertretung des einen der Tod zur Herrschaft gekommen,
… so kommt es auch durch die gerechte Tat eines Einzigen für alle Menschen zur Gerechtsprechung, die Leben schenkt.“

Paulus verwendet hier für die Sünde Adams das Wort „Übertretung“ (oder „Fehltritt“: paráptôma). Das ist volle Absicht, denn es drückt aus, was herauskommt, wenn wir uns selbst zu „Göttern“ machen: Wer – etwa beim Bergsteigen – seinen Schritt dorthin setzt, wo ein sicheres Stehen nicht möglich ist, stürzt ins Bodenlose. Und genau das ist uns passiert. Wir sind ins Leere gestiegen und fallen auf das Nicht des Todes zu. Demgegenüber ist Jesu „gerechte Tat“ (dikaíôma: sein „richtiges Verhalten“) und sein am Kreuz endgültig gewordenes Leben die Keimzelle für eine neue und menschliche Menschheit.

Gottes Kraft und Weisheit
Paulus wusste nur zu gut, dass das „Wort vom Kreuz“ vielen Menschen als empörende Verrücktheit erscheinen wird. Er selber hatte es früher ja auch so empfunden. Dennoch nimmt er nichts von der Schärfe des Gedankens zurück, wenn er zu Beginn des 1. Korintherbriefs (1,22–24) ausruft:

„Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit.
Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten:
für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit,
für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“

Wenn Gott seine Herrschaft ausübt, dann ist das eben gerade nicht so, wie wir es von den „Machthabern dieser Welt“ (1 Kor 2,6.8) kennen. Und Gottes Weisheit verwendet ganz andere Methoden, als jene, welche die Strategen und Spin-Doktoren dieser Welt in Wirtschaft und Politik als Erfolgsrezepte propagieren. Gerade das ist für uns Christen aber ein Argument dafür, im gekreuzigten Jesus den Anfang einer erneuerten und endlich „lebens-fähigen“ Menschheit zu sehen.

Impulse

Wir sollten uns bewusst machen, was wir tun, wenn wir uns – zum wievielten Mal in unserem Leben eigentlich? – bekreuzigen:

  • Wir zeigen damit äußerlich, was wir von der „Macht und Weisheit“, wie sie in „dieser Welt“ üblich sind, halten.
  • Wir stellen uns innerlich unter das Kreuz Jesu und sagen: So geht Leben!
  • Und weil uns das alles vielleicht viel zu „steil“ ist, sagen wir dazu: Damals schon hast du mich mitgenommen!

Wenn wir uns das wirklich bewusst machen: Sollten wir uns in Zukunft wohl seltener und verhaltener mit dem Kreuz Jesu bezeichnen – oder vielleicht doch eher häufiger und entschiedener?

Dr. Christoph NiemandDr. Christoph Niemand
ist Universitätsprofessor der neutestamentlichen Bibelwissenschaft
an der Katholischen Privat-Universität Linz.
Zu seinen Veröffentlichungen zählt das Buch
„Jesus und sein Weg zum Kreuz“.

(aus dem KirchenBlatt Nr. 43 vom 26. Oktober 2017)