Wird unsere Gesellschaft als Skulptur gesehen, dann gestalten wir alle daran mit. Diese Erkenntnis führt uns derzeit eine außergewöhnliche Installation im vorarlberg museum vor Augen. Die Bregenzer Künstlerin Ines Agostinelli konzipierte und begleitet dazu einen Prozess, der sich mit dem Thema „Flucht“ auseinandersetzt.

Patricia Begle

Rund 600 Heißluftballons hängen von der Decke des Atriums im vorarlberg museum. Sie stehen für Fluchtgeschichten: Zerbrechlich, schwer steuerbar und jede anders. Gemacht wurden die Ballons von rund 600 Frauen, Männern und Kindern, die seit Jahren oder Monaten in Vorarlberg leben. Die Nachfrage nach den Workshops, die dafür angeboten wurden, war enorm.

Wovor flüchte ich?
„Wer über Flucht nachdenkt, entdeckt, wie komplex das Thema ist“, erläutert die Künstlerin. „Die Ursachen dafür sind verwoben in alles, was unser Leben ausmacht. Sie haben zu tun mit der Vergangenheit, mit der Weltwirtschaft, mit politischen Tendenzen. Und natürlich ist Flucht seit Anbeginn Grunddisposition des menschlichen Wesens.“ Um diesen psychologischen Aspekt ging es auch in den Workshops. „Wo flüchte ich“, so die Frage. Vor dem Hund, vor den streitenden Eltern, vor dem schlagenden Vater. Die Antworten waren vielfältig. „Mir ging es darum, einen persönlichen Bezug zu schaffen. Denn wenn es keine Berührungspunkte gibt, dann lässt mich das Thema kalt“, erläutert Agostinelli ihr Konzept. Aus diesen persönlichen Fluchtgeschichten entstand in den Workshops oft eine eigene Dynamik, abseits von kontroversen Diskussionen, die das Thema natürlich auch mit sich brachte.

Wie reden wir?
„Entscheidend bei diesem Prozess war die Art, wie wir miteinander reden“, erklärt die Künstlerin. „Das Thema muss differenziert gesehen werden, Polarisierung ist hier fehl am Platz.“ Kommunikationskultur und Demokratieverständnis müssen geübt werden, ist Agostinelli überzeugt. Das Projekt leistet dazu einen Beitrag.
Nach der Reflexion ging es dann ans konkrete Arbeiten. Die Ballons wurden aus Pappmaché gemacht, die Zeitungen dafür stammten aus den Ländern, aus denen die Teilnehmenden geflüchtet waren. „Das gemeinsame Arbeiten brachte eine super Dynamik mit sich“, erzählt die Künstlerin. „Es ging nicht nur darum, herumzusitzen und Kuchen zu essen. Das Arbeiten hatte Sinn und Zweck.“ Fehlte die gemeinsame Sprache, wurde non-verbal kommuniziert. Für die Künstlerin zeigte sich im Prozess, dass Begegnung „immer dort am schönsten ist, wo es um Zuwendung und Wärme geht“. Die entscheidende Frage ist: Was möchte ich für ein Mensch sein? Mich verschließen oder öffnen? Zudem hat sich der künstlerische Blick der Bregenzerin verändert: Vom Individuum in seinem privaten Umfeld hin auf das Individuum in der Gesellschaft, und zwar in der Weltgemeinschaft.

Sinnlich wahrnehmbare Fülle
Für Agostinelli war das Projekt aufgrund seiner Größe Neuland. Niemand konnte vorhersehen, was es letztlich bedeuten würde. Allein das Zuschneiden von den Bändern zum Aufhängen benötigte zehn Tage, es waren 6500 Meter Band. Die an die Ballons angehängten Körbchen wurden in der Caritas-Werkstätte Ludesch hergestellt, für das Fertigstellen der Ballons wurden Familie und Freunde eingespannt. Insgesamt waren rund 700 Menschen am Werk. Ein kleiner Teil von ihnen zeigte sich bei der Vernissage am Sonntagvormittag auf der Bühne. Beim Podiumsgespräch, der Tanzperformance und dem Wortspiel von Kindern und Jugendlichen. Agostinelli freute sich über das Gelingen: „Die ganze Fülle, die in diesem Projekt steckt, wird hier sinnlich wahrnehmbar.“

Die Soziale Skulptur

ist bis 26. März im vorarlberg museum zu sehen.
Vertiefend gibt es für Oberstufenklassen Workshops mit Ines Agostinelli zum Thema „Wer wollen wir sein? Flucht und ihre mediale Repräsentation“. Zum Projekt gehört zudem ein Symposium, das am 19. März stattfindet.
Der Titel: „Wer wollen wir sein? Flucht, Perspektiven und Utopien.“

www.vorarlbergmuseum.at