Vergangene Woche trafen sich Verantwortliche der Pastoral - Priester, Hauptamtliche und Engagierte der "Wege erwachsenen Glaubens“ - mit Christian Hennecke. Im Interview mit Patricia Begle macht der Pastoralamtsleiter des Bistums Hildesheim Mut, das zu sehen, was heute schon „glänzt“.

Dr. Christian HenneckeHerr Hennecke, was ist Kirche für Sie?
Die Idee von Gott ist ja, dass er allen Menschen Heil schenken will. Und das tut er, indem er sie zusammenbringt. Er sammelt die Menschen in einem einzigen neuen Volk Gottes. Kirche ist sozusagen der Ort, an dem das, was Gott mit allen Menschen machen will, ansichtig werden soll: eine Gemeinschaft ohne Klassen, eine Gemeinschaft wo es eine substantielle Gleichheit zwischen allen gibt, wo nicht mehr unterschieden wird, bist du jung bist du alt, bist du schön, bist du hässlich, bist du Mann bist du Frau, bist du Grieche oder Syrer, wo wir eine Erfahrung von Gemeinschaft machen, die uns über alle Grenzen hinweg verbindet.

Sind das die "glänzenden Aussichten", von denen Sie im Titel Ihres Buches sprechen?
Die Rede von den glänzenden Aussichten ist ein Blick auf das Bild des himmlischen Jerusalem. Das ist die Vision, auf die wir zugehen, Gott lebt unter den Menschen. Wenn ich das als Zielbild habe, dann kann ich an jedem Ort, an dem ich bin fragen, wie fängt es hier schon an zu glänzen? Kann ich dafür sorgen, dass diese Wirklichkeit, auf die wir ja zugehen, schon ein bisschen mehr Wirklichkeit wird?
Das Wort dafür im Neuen Testament heißt „Liebe“, „Nächstenliebe“. Wenn einer was zu trinken und zu essen braucht, dass ich ihm das dann gebe, dass ich frage: "Was brauchst du?" Dass ich die Begegnung suche. Es geht darum, zu entdecken, wo überall diese tiefe Wirklichkeit dessen, was kommt, sich schon andeutet. Und: Wie kann ich dem Werden dieser Wirklichkeit dienen?

Was heißt das für eine Diözese?
Es heißt ja, dass nicht ein Bistum Pastoral macht, sondern dass alles zur Verfügung gestellt wird, auf dass die Christen, die am Ort leben, in den verschiedenen Wirklichkeiten leben, so gestärkt werden, dass sie das leben können. Also dass sie selber eine innere Ergriffenheit und Begeisterung haben, um so in ihrem Leben das ausstrahlen können, diese Hoffnung, dass diese Welt von Gott getragen ist und dass wir hier schon ein bisschen damit anfangen.
Es geht darum, den Leuten diesen Horizont, diese Hoffnung auf Zukunft nahezubringen und ins Gespräch zu kommen. Hinzuhören, was schon geschieht und gleichzeitig Orientierung zu geben und zu sagen: wir unterstützen euch. Also nicht, wir wollen was von euch und ihr müsst das jetzt so und so machen, sondern, was bewegt euch, und wie können wir eurer Entwicklung stärken. Da stellen wir uns in den Dienst.

Und wenn eine Gemeinde auf dem Holzweg ist?
Dann kann man denen auch helfen, dann kann man denen eine Frage stellen: Entspricht das, was ihr tut, der Botschaft, aus der heraus wir leben wollen?

Welche Rolle hat der Priester?
Er ist der Diener an der Einheit des Ganzen. Das feiert er in der Eucharistie, die Einheit ist ja sozusagen der Inbegriff des ganzen Kirche-Seins. Wenn in Lateinamerika oder Afrika eine Pfarrei ist – mit meistens 20, 30 Gemeinden, und vielleicht ist nur an wenigen Orten Eucharistie, aber da wo sie ist, da sammelt sich dieses Volk, und da wird dann diese Einheit gefeiert. Es wird in Zukunft sehr unterschiedliche Formen von Christsein geben, gibt es ja schon, hier muss ich zum Beispiel sorgen, dass niemand dem anderen abspricht, dass er - das gehört zu meinem Dienst. Dass, wenn Konflikte entstehen, wir sagen, was sind die Konflikte, die Regeln, was ist zu lösen. Dass wir miteinander auf das Wort Gottes hören. Dass wir verbunden bleiben mit der ganzen Kirche. Das ist sozusagen wesentliche Aufgabe des Priesters. Und dass wir mit der Feier der Eucharistie einen Ort haben, an dem diese Einheit immer wieder neu begründet wird.  Dass der Priester darüber wacht, dass die Maßstäbe des Evangeliums gelten.

Kann er das alles leisten?
Eine Konsequenz, die daraus folgt ist, dass jede dieser Gemeinden ein Team von Leuten hat, das Verantwortung vor Ort übernimmt. Mit diesem Team ist der Pfarrer in Kontakt. Das hat auch viel mit Vertrauen zu tun. Ich glaube, eine der Grundhaltungen in dem ganzen Zusammenhang heißt Vertrauen. Vertrauen und Bildung. Die Verantwortlichen werden von der Gemeinde auch als solche gesehen, und dann müssten wir sie fragen: „Was braucht ihr, damit ihr das gut machen könnt?“ Ob das Fortbildung ist oder Konfliktmanagement… Das muss der Priester aber nicht selber machen. Im Grunde genommen wird die Aufgabe des Priesters episkopaler, er wirkt mehr wie ein Bischof. Er ist nicht immer direkt am Ort und macht alles, sondern er ist derjenige, der die Verantwortlichen unterstützt in deren Tun.

Was haben sie sonst noch von den Kirchen in Lateinamerika und Afrika gelernt, was ist typisch für sie?
Es sind zwei Dinge, die dort zentral sind. Das eine ist, dass ich in all diesen Kirchenentwicklungsprozessen eine sehr starke Achtsamkeit darauf gesehen habe, wie man aus dem Wort Gottes lebt. Das alltägliche Leben braucht Nahrung. Und die haben mit ihren Gläubigen viel daran gearbeitet, dass sie mit dem Wort Gottes umgehen können. Also: beten können, miteinander lesen und hören können.
Das zweite: Es gab immer eine starke Sensibilität für das, was in dem Umfeld passiert. Man könnte von „Sendungsorientierung“ sprechen. Was braucht es hier für die Menschen am Ort, damit Gottes Heil vorankommt? Welche Not ist hier, welche Herausforderung?

Mehr Eigenverantwortung?
Absolut mehr Eigenverantwortung. Mehr Selbstverantwortung. Wir sprechen englisch auch von "selfsustaining communities". Es geht darum, dafür zu sorgen, dass diese Gemeinschaften vor Ort aus der Kraft des Evangeliums heraus alle Verantwortungen überehmen: Beerdigungen halten, Katechese – alles was man normalerweise Hauptberuflichen zubilligt. Ich habe erlebt, dass das dort von gut geschulten und gut begleiteten Leuten gemacht wird.

Was heißt „über sich hinauswachsen“ für die Kirche?
Über sich hinauswachsen heißt, eine Zukunftsorientierung wahrnehmen. Wir orientieren uns an einer Zukunft, die noch vor uns liegt. Bei Kirche sagen wir vom II. Vatikanischen Konzil her „das Volk Gottes ist auf dem Weg“. Wir haben noch keine „bleibende Stadt“, wir sind hier also nicht in einer Situation, dass wir sagen müssen „das müssen wir erhalten, unbedingt, sonst sind wir nicht mehr Kirche“, sondern wir sind bereit, über uns selbst hinauszuwachsen. Wir sind auf einem Weg, der noch vor uns liegt. Deswegen sind wir auch nicht formkonservativ und müssten unbedingt so bleiben. Sondern: wenn der Geist uns weiter führt, gehen wir auch weiter. Es geht darum, von den Verheißungen Gottes her zu leben. Es gibt schon Früchte zu sehen. Aber es gibt keinen Grund, weil es noch unsicher ist, zu sagen: „Kehren wir doch lieber zurück.“ (Buch Numeri)