Fünfmal erzählt das Johannesevangelium von einem „Jünger, den Jesus liebte“. Es bestand offenbar eine besondere Nähe, die diese beiden verband: im Leben, im Sterben – und darüber hinaus.

Serie "Paare der Bibel" - bekannte Geschichten neu erzählt.
Teil 6: Jesus und der Lieblingsjünger

Georg Magirius

 

von Georg Magirius
Evangelischer Theologe und Autor

 

Mit Mittelmaß gab sich Jesus nicht zufrieden. Alles musste außergewöhnlich groß, fantastisch sein. Er hatte nicht nur einen Traum, sondern unendlich viele. Die ganze Welt sollte licht und farbig werden. Gemütliches Familienleben? Nein, das reichte nicht. Am besten sollten alle Menschen zu einer Familie werden. Andere hofften vielleicht auf eine Paarbeziehung. Jesu Wille aber war es, alle zu umarmen. Wenn er sprach, war sein Lieblingswort sofort herauszuhören: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ (Johannes 13,34.35)

Mutterliebe und „Weltliebe“
Jemandem, der die ganze Welt mit Liebe überziehen will, kann es natürlich unangenehm sein, wenn ihm eher altmodische Formen der Zuneigung widerfahren. Da war etwa seine Mutter. Schon als Jugendlichen hatte Jesus das geärgert: Zufrieden saß er mit seinen Freunden zusammen, sie hörten Musik, waren in Gespräche über den Sinn des Lebens vertieft. Da klopfte es an die Tür. „Wollen deine Freunde vielleicht etwas zu trinken haben?“
Die Mutter konnte sich nicht dezent im Hintergrund halten, auch später nicht, als der Sohn erwachsen war. Sie war so stolz auf ihn und überzeugt von ihm, dass sie ihn bei einem Festgelage drängte, für mehr Wein zu sorgen. Da herrschte er sie an: Was geht’s dich an, Frau, was ich tue? (Johannes 2,4)
Dabei liebte auch Jesus seine Mutter – nur schien das viel „zu eng“ zu sein für einen, der den gesamten Erdkreis durch Liebe verwandeln will. Schon bald aber musste auch er erkennen: Die Welt bestand nicht nur aus Liebe. Da gab es Getuschel, Neid, Beschimpfungen und Widerstand – selbst unter seinen Vertrauten. Und Jesus sprach: Wahrlich, wahrlich: Einer unter euch wird mich verraten. Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete. (Johannes 13,21.22) Denn die Jünger, seine Vertrauten, wussten: Jeder von ihnen war in der Lage, die Liebe zu verraten.

Kein ausgeflippter Fan
Vielleicht sprach Jesus gerade deshalb so viel von ihr, weil sie viel zu selten war? Jesus ahnte, schon bald würde die Liebe verglimmen, ganz verlöschen – wenn unter seinen Freunden nicht ein ganz besonderer Mensch gewesen wäre. Kurioserweise war er deshalb so besonders, weil er sich im Gegensatz zu all den anderen
ziemlich normal verhielt. Möglicherweise handelte es sich sogar um den einzigen Menschen weit und breit, der von Jesus weder ein Autogramm noch ein Poster besaß. Er war kein ausgeflippter Fan, niemand, der ihm schmeichelte. Er sagte seine Meinung. Und wenn Jesus sich wieder einmal in nicht enden wollenden Sätzen über das Wesen der Liebe verwickelte, lächelte er einfach. Diese Ehrlichkeit betörte Jesus. Was aber zog diesen Menschen an Jesus an? Er konnte es kaum in Worte fassen. Es war nicht spektakulär, keine Sensation. Aber gerade das war unendlich viel. Er merkte nämlich, wie er in der Nähe Jesu ganz er selber wurde. Es war aber einer unter seinen Jüngern, den Jesus lieb hatte, der lag bei Tisch an der Brust Jesu. (Joh 13,23) 

Ganz nahe

Er lag an seiner Brust, und nicht nur das, er lehnte sich an Jesus, um nach dem Namen des Verräters zu fragen. Den aber sprach Jesus nicht aus. Es waren doch so viele, die Jesus am Ende alleine ließen. Als er sich schließlich dem Tod entgegenquälte, waren nur Frauen bei ihm geblieben. Auch seine Mutter stand da, die er einst angeherrscht hatte, und die – wie Mütter oft sind – nicht anders konnte, als weiterhin zu ihm zu halten.
Ein Mann aber war nicht davongelaufen, ein einziger. Und das war eben jener, der an Jesu Brust gelegen hatte. Da, ganz am Ende, fühlte und sprach der Prophet einer weltumspannenden Liebe nur noch ganz privat. „Als
Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: Frau, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! (Johannes 19,26.27)



Der Lieblingsjünger Jesu ist eine anonyme Gestalt aus dem Johannesevangelium. Obwohl im Johannesevangelium mehrfach erzählt wird, dass alle Jünger von Jesus geliebt werden (Joh 13,1.34), erhält der Lieblingsjünger eine hervorgehobene Position. Insgesamt fünfmal kommt der Begriff „der Jünger, den Jesus liebte“ in der Passions- und Auferstehungsgeschichte vor. Als einziger Jünger am Fuß des Kreuzes ist er ein beispielhaft Gläubiger. Aus dem Evangelium geht jedoch nicht hervor, wer diese Person ist. Am Schluss des Johannes-Evangeliums heißt es: „Dieser Jünger (den Jesus liebte) ist es, der all das bezeugt und der es aufgeschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist (Joh 21,24). Davon leitet sich die Tradition ab, dass Johannes der „Lieblingsjünger“ sei;  ebenso wie aus der mehrfachen Erwähnung bei den anderen Evangelisten, dass Johannes mit Petrus und Jakobus zum engeren Kreis um Jesus gehört hatte.