Auf den ersten Blick fügt sich das Thema gut in die Jahreszeit: in den grauen Herbst, den beginnenden Winter. Auf den zweiten Blick passt es aber nicht zum Beginn des neuen Kirchenjahres und zur Vorfreude auf Weihnachten.

Aber, wie sagt Rainer Maria Rilke: „Der Tod ist groß. / Wir sind die Seinen / lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen, / wagt er zu weinen / mitten in uns.“

Bild rechts: Totentanz - Fresken von La Chaise-Dieu

Peter Natter

Ob uns die Gedanken an den Tod nun passen oder nicht: Wir kommen um sie nicht herum. Sie gehören zu uns. Schon der tägliche Blick in die Tageszeitung lehrt uns die vielgestaltige Präsenz des Todes. Und dass es der Tod ist, der viele Dinge ans Licht bringt, stellen wir spätestens dann fest, wenn wir mit dem Sterben naher Angehöriger konfrontiert sind. Hat man das gut gelesen: Der Tod bringt es ans Licht! Ans Licht! Außerdem kümmert er sich nicht um unsere Eitelkeit und Kleinlichkeit: Er zwingt uns hinein ins Absolute; er erlaubt es nicht, das Herz mit falschen Gewichten zu beschweren, weil er weiß, dass die echten schon kaum zu ertragen sind.

Alle paar Jahre - also viel zu selten - stehe ich vor dem berühmten Totentanz in der Klosterkirche von La Chaise-Dieu („Der Ansitz Gottes“) in der Auvergne. 600 Jahre alt sind diese Fresken und noch immer faszinieren sie in ihrer Unmittelbarkeit. Der Tod holt jeden, vom kleinen Bauern bis zum Kaiser und Papst, lautet die Botschaft der Bilder.

Es lebe der Tod!, hat einst ich weiß nicht wer ausgerufen. Aber er/sie hat eine tiefgreifende Ahnung gehabt von der Spannung, in die der Mensch unweigerlich hineingestellt ist. Die Spannung zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen der eigenen, begrenzten Lebenszeit und der unendlichen Weltzeit. Niemand entgeht dieser Spannung. Wer sie verdrängt, wird leicht zum Zerrissenen. Vielleicht weil sie es ist, die alles Leben spannend, also lebendig macht. Dass das Leben schlicht nicht auszuhalten wäre, wüssten wir nicht um seine Endlichkeit, ist bekannt. Nur mit den Konsequenzen aus dieser Einsicht tun wir uns schwer. Doch alle Versuche, sie aufzuheben, entfernen uns von uns selbst und damit von dem, was das Leben lohnt. In einem Leben, das uns nicht zwingt, bewusst hauszuhalten mit den 60, 70, 80 Jahren, mit denen wir rechnen dürfen, und das am besten Tag für Tag, in einem solchen Leben fehlt jede Motivation, jeder Halt, jede Glücksmöglichkeit!

Zuletzt scheint mir genau das der Punkt zu sein, an dem die Frage nach den dem Leben innewohnenden Werten zu beantworten ist; das heißt nach jenen Bereichen, in denen die Seele zum Zug kommt. Wenn wir gelernt haben, dass das vergängliche Leben etwas anderes ist als die Existenz, das Sein, von dem die Philosophen und Dichter erzählen, sind wir auf dem richtigen Weg. Dichter und Philosophen sind es, die sich darum kümmern, die Menschen zu sich selbst zu bringen. Zu jenem Selbst, das sich darin bewährt, wie es sich bei klarem Verstand zum Verhältnis zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwischen der Freiheit und der Notwendigkeit stellt.

Noch immer ist und bleibt der Tod die größte narzisstische Kränkung des verzweifelter denn je auf seine Autonomie pochenden Individuums. So rückt endlich der Begriff der Menschenwürde ins Zentrum: Würde- und wertvolles Leben und Sterben verwirklichen sich in der Haltung der Einsicht und Demut. Dass diese Haltung geübt werden kann und muss, lehren nicht zuletzt Darstellungen wie jene von La Chaise-Dieu. Sie bewahren vor falschen Götzen, vor der Heiligsprechung des Unheiligen wie vor der leichtfertigen Entwertung des Wertvollen, etwa im verantwortungslosen Konsum, in unfairer Produktion und im ausbeuterischen Handel. Werte bewahren, wenn wir uns ihnen stellen, vor jenen kleinen und großen, immer aber falschen Katastrophen, die unvermeidlich sind, wenn der Tod verdrängt wird. Und vor allem: Kunstwerke wie jener Totentanz ermöglichen es uns, ganz zu werden in einem geglückten Leben, das möglicherweise daraus entspringt, dass wir sein Ende ebenso zu würdigen, ja warum nicht: zu feiern! wissen wie seinen Anfang. 

Peter Natter, Philosoph und Autor.
Zuletzt erschienen: In Grund und Boden. Eine Geschichte von Sein und Haben. Bucher Verlag Hohenems, 2012.

 

Totentanz von Chaise-DieuDer Totentanz von La Chaise-Dieu

La Chaise-Dieu liegt in der französischen Region Auvergne. Robert von Turlande gründete hier 1052 ein Benediktinerkloster. Im Mönchschor der Abteikirche befinden sich Fresken mit dem Motiv des Totentanzes.
Die Fresken sind nur noch in Fragmenten erhalten.

Der Totentanz entstand zwischen 1410 und 1425. Heute kann man noch 24 der insgesamt 30 Tanzpaare des nie ganz vollendeten Totentanzes erkennen.

Die Bildfolge begann mit der Szene des Sündenfalls von Adam und Eva im Paradies; es folgte ein Prediger, der zu tugendhaftem Leben aufrief. Daran schlossen sich als Tänzer mit dem Tod in Gestalt einer mumifizierten Leiche an: Papst, Kaiser, Kardinal, König, Patriarch, Feldherr, Erzbischof, Ritter, Bischof, Knappe, Abt, Amtmann, Astrologe, Bürger, Domherr, Kaufmann, Kartäusermönch, Sergeant, Laienbruder, Wucherer, Arzt, Liebhaber, Advokat, Spielmann, Pfarrer, Bauer, Bettelmönch, Kind, Schreiber und Eremit.

Der Totentanz stellt ab dem 14. Jahrhundert die Gewalt des Todes über das Menschenleben in allegorischen Gruppen dar, in denen die bildliche Darstellung von Tanz und Tod meist gleichzeitig zu finden sind.

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