Sind Sie glücklich? Würden Sie ihr Leben als ein „geglücktes, gelingendes oder gutes Leben“ bezeichnen, zu dem Sie gerne „ja“ sagen? Oder haben Sie einfach noch nie darüber nachgedacht? Dr. Hubert Klingenberger geht beim diesjährigen Herbstsymposion der Frage nach „wie ich wirklich wirklich leben will“. Und wie man es schafft.

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Herr Klingenberger, der Titel ihres Vortrags lautet „Unsere Bilder guten Lebens: wie ich wirklich wirklich leben will“. Zwischen dem, wie ich leben möchte und der Realität liegen aber oftmals Welten. Warum ist das so?
Das kann ich gerne an einem persönlichen Beispiel verdeutlichen: Als ich vor vielen Jahren noch nicht freiberuflich tätig war, hat man mir eine Führungsposition in einem großen Bildungsunternehmen angeboten. Das war inhaltlich wie finanziell reizvoll, hat mir natürlich geschmeichelt und ich wurde von vielen Freunden und Kolleg/-innen dazu ermuntert. Ich habe das Angebot angenommen. Anfangs war ich mit viel Engagement und Freude aktiv. Mit der Zeit machte sich aber fehlende Motivation und eine grundlegende Erschöpfung bemerkbar. Ich wurde auch immer öfter krank. Dank der Begleitung von Freunden und professioneller Helfer wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr das tat, was ich wirklich wirklich wollte und was ich – in aller Bescheidenheit – gut kann. Eine berufliche Umorientierung stand an…
Um Ihre Frage allgemeiner zu beantworten: Manchmal macht das Leben attraktive Angebote, manchmal zwingt es uns auf Lebenswege, auf denen unsere Bedürfnisse und Stärken nicht verwirklicht werden können. Wenn wir diese Lücken nicht anderweitig sinnvoll füllen können, gerät unser Leben auf die Dauer aus der Balance.

Was braucht es, damit diese Veränderung vollzogen wird/ werden kann?
Ich denke, wir müssen im Blick auf unsere Befindlichkeit achtsam sein. Das ist bei einem schleichenden Prozess der Selbstentfremdung aber nicht immer gegeben. Manchmal zieht dann der Körper die Notbremse. Und es braucht natürlich Möglichkeiten, diese Situation verändern zu können. Ich war ja in meiner beruflichen Umorientierung in einer privilegierten Lage: ich konnte wählen und handeln. Ein „gutes Leben“ zu führen ist ja nicht nur eine Frage der persönlichen Lebensführung, sondern auch eine soziale Frage.

Wie und woher finden Menschen Motivation oder Kraft ihr Lebensstil zu verändern?
Ich fürchte die Motivation resultiert zumeist daraus, dass wir einen Zustand der  Selbstentfremdung nicht mehr aushalten. Druck, Müdigkeit, Sinnzweifel (und entsprechende somatische Begleiterscheinungen) nötigen uns dazu, innezuhalten und zu fragen: „Was ist es, was ich wirklich wirklich will?“ Sinn-voller wäre es natürlich regelmäßig innezuhalten und ein „kleinen Sinncheck“ zu machen: ich finde die Zeit zwischen Weihnachten und Dreikönig oder der Sommerurlaub bieten sich hier immer gut an.

Welche Rahmenbedingungen sind dabei förderlich?
Wir brauchen Rahmenbedingungen, in denen wir wieder die Regisseure unseres Lebens sind – Akteure, und nicht Reagierende. Es gilt, uns regelmäßig zu vergewissern, dass wir die Selbstbestimmung über unser Leben nicht komplett hergeben. Eine gute Reflexionsfrage vor dem Einschlafen am Abend könnte lauten: Wo habe ich heute selbstbestimmt gehandelt? Das macht uns zum einen unsere Bindungen bewusst und zum anderen wachsam für die Lebensbereiche und –entscheidungen, bei denen wir andere zu sehr über uns bestimmen lassen.
Und um Missverständnissen vorzubeugen: Selbstbestimmtes Leben heißt nicht asoziales Leben. Wer selbstbestimmt lebt, muss sich nicht als sozialer Ignorant aufführen. Im Gegenteil: wenn es stimmt, dass der Mensch nicht nur ein hilfsbedürftiges, sondern auch ein helfensbedürftiges Wesen ist, dann wird dies in einer selbstbestimmten Lebensführungen seinen Ausdruck finden.

Spielt hierbei vielleicht auch Spiritualität eine Rolle?
Aus meiner Sicht: selbstverständlich! Vor einigen Wochen habe ich bei einer Tagung mit geistlichen Begleiter/-innen zum Thema „Biografiearbeit und Ignatianische Exerzitien“ mitgewirkt. Pater Franz Meures SJ hat da eine wichtige provokative Frage gestellt – sinngemäß lautet sie: „Wenn ihr eine Lebensentscheidung trefft, woher wisst ihr, dass bei der Entscheidung der Heilige Geist beteiligt war und nicht euer persönlicher Vogel?“ Hier kommt die Spiritualität ins Spiel! Ich zitiere nochmals Pater Meures in eigenen Worten: Fördere ich mit meiner Lebensentscheidung „Glaube, Hoffnung und Liebe“?

Wie sieht ein „geglücktes, gelingendes oder gutes Leben“ aus? Wodurch zeichnet es sich aus?
Wilhelm Schmid, der Philosoph der Lebenskunst, spricht in diesem Zusammenhang von einem „bejahenswerten Leben“. Kann ich zu meinem Leben und der Art, wie ich es führe, begründet und verantwortungsvoll „Ja“ sagen? Wie dieses bejahenswerte Leben konkret ausschaut, kann nur im Blick auf das jeweilige Individuum beantwortet werden. Bejahenswert heißt aber nicht, dass alles nur schön, angenehm, lustvoll ist. Zu einem bejahenswerten Leben gehört – so Schmid – das „Glück der Fülle“ und zu dieser Fülle gehören auch Leid, Trauer und Schmerz.

Welche Werte sind im Leben wichtig?
Ich unterscheide zwischen zwei Wert-Ebenen: Da gibt es zum einen die Werte, die für das Zusammenleben der Menschen von grundlegender Bedeutung sind: Gerechtigkeit, Toleranz, Barmherzigkeit usw.
Zum anderen gibt es die Ebene persönlicher Werte. In der Logotherapie versteht darunter das, was die Aufmerksamkeit und die Energien eines einzelnen Menschen bündelt, was ihn antreibt und bei seinen selbstbestimmten Lebensentscheidungen beeinflusst. Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, beschreibt diese Werte als „Königswege zum Sinn“ – wer seine persönlichen Werte leben kann, wird wahrscheinlich Sinn erleben. Wer dauerhaft an seinen persönlichen Werten vorbei leben muss (z.B. am Arbeitsplatz) und dies nicht anderweitig kompensieren kann, kann psychosomatische Probleme bekommen (z.B. Burnout).

Welche Modelle für geglücktes Leben gibt es? 
Diese Frage zu beantworten, hieße einen Überblick über die Geschichte der Philosophie zu geben…
Ich greife einen aktuellen Ansatz auf: Der Salzburger Philosoph Clemens Sedmak spricht von einem „ernsthaften Leben“. Damit meint er u.a. ein Leben, das um seine Endlichkeit weiß und dementsprechend gestaltet wird. Ein ernsthaftes Leben zeigt sich auch in einer Lebensführung, die sich der Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit jedes persönlichen Lebens bewusst ist. Auch das ist eine schöne provozierende Frage für die allabendliche Besinnung: Woran haben die Menschen in meinem Umfeld heute gemerkt, dass ich einzigartig und unersetzlich bin? Oder noch pointierter: Stell Dir vor, Du bist einzigartig und keiner merkt’s!“

Woher kann ein Mensch wissen, was er/sie wirklich will?
Ich möchte auf zwei Möglichkeiten hinweisen: die eine ist die Meditation und der geistliche Weg: Ignatianische Exerzitien oder Exerzitien im Alltag sind Möglichkeiten sich immer wieder rückzuversichern, inwieweit ich mit mir stimmig bin, ein ernsthaftes oder bejahenswertes Leben führe oder – religiös ausgedrückt – meiner Berufung (= dem, wozu Gott mich berufen und be-geist-ert hat) folge.
Die andere Möglichkeit stellt aus meiner Erfahrung die Biografiearbeit dar: Wir selbst sind ja die Fachleute für unser Leben. Unsere Biografie ist ein kontinuierlicher Lernweg.

Warum ist die Biografiearbeit für das eigene, heutige Leben wichtig?
Biografiearbeit heißt: Menschen blicken zurück auf ihr bisher gelebtes Leben, suchen nach ihren Kompetenzen und Potenzialen, Träumen und Ressourcen – und finden so Orientierung und Ermutigung für aktuelle Aufgaben und künftige Ziele. Dieser Blick lässt erfahren, wo wir in unserem gelebten Leben schon ganz nahe an dem dran waren, was wir wirklich wirklich wollen- Und dann ist es möglich zu überlegen, wie wir diese Nähe zu unseren persönlichen Werten wieder anzielen und realisieren wollen

Wo stoßen wir an die Grenzen der Gestaltungsfreiheiten und –notwendigkeiten des eigenen Lebens?
Ich sehe zwei Grenzen: zum einen den fehlenden Mut und blockierende Leitsätze, die wir vor allem in der Kindheit von zentralen Bezugspersonen gelernt haben.
Zum anderen sind die fehlenden sozialen und kulturellen Freiräume als Grenzen zu nennen. Zunehmend verbauen wir immer größer werdenden Teilen unserer Gesellschaft die Möglichkeit zum selbstbestimmten Leben und zur sozialen und kulturellen Teilhabe. Ein rein auf die Wirtschaft ausgerichtetes Schulsystem lässt zunehmend junge Erwachsene zurück, die der Wissensfülle und dem Lerntempo nicht gewachsen sind. Die Sozialpolitik manövriert immer mehr Menschen ins soziale Abseits. Ihnen zu sagen, sie sollen leben, was sie wirklich wirklich wollen, ist zynisch.
In meinem Studium habe ich gelernt: Pädagogik und Politik sind zwei Seiten einer Medaille! Wir müssen die Menschen zu einem guten Leben befähigen UND dafür sorgen, dass die entsprechenden Rahmenbedingungen für möglichst viele vorhanden sind!

Welche gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen braucht es, damit möglichst viele gut leben können?
Die Formulierung „was ich wirklich wirklich will“ stammt vom – in Österreich aufgewachsenen – Sozialphilosophen Frithjof Bergmann. Er arbeitet an der Umsetzung einer Vision von einer (Arbeits-) Welt, in der alle Menschen tun können, „was sie wirklich wirklich wollen“. Mit vielen Helfer/-innen sucht und findet er Möglichkeiten, diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Zentrale Faktoren bei dieser Vision sind u.a.: Selbst- und Mitbestimmung, gesellschaftliche Teilhabe, Nachhaltigkeit durch Selbstversorgung.

Das Thema des Herbstsymposions lautet „Wie das Gute in die Welt kommt und was wir beitragen können“. Was glauben Sie – was können wir beitragen?
Wir können Menschen dabei begleiten herauszufinden, was sie „wirklich wirklich“ wollen (ein gleichnamiges Bildungsangebot im Tagungshaus St. Virgil in Salzburg tut dies beispielsweise). Und wir müssen Impulse in die Gesellschaftspolitik hineingeben und Versäumnisse anmahnen, wo Menschen die Teilhabe an der sozialen und Arbeitswelt, an Kultur und Politik dauerhaft und strukturell verweigert wird.

Wie kommen Sie persönlich zu diesem Thema und diesen Fragen?
Vor über fünfzehn Jahren habe ich begonnen, mich mit dem Thema Biografiearbeit  zu beschäftigen. Wenn kulturelle Vorgaben, wie eine “gute Biografie“ auszusehen hat, brüchig und unverbindlich werden, dann haben wir zum einen die Chance, aber auch die Notwendigkeit, Lebensentscheidungen selber zu treffen. Biografische Kompetenz ist gefragt.  Woher bekomme ich aber Anhaltspunkte, welche Entscheidungen richtig sind? Diese Frage beschäftigt mich kontinuierlich und zunehmend…
Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass ich gerade meinen 50. Geburtstag gefeiert habe. „Willkommen in der zweiten Lebenshälfte!“ formulierte ein Gratulant. Sicherlich befördert diese magische Zahl auch das Nachdenken für das, was man „noch“ wirklich wirklich will.