Papst Benedikt will sie zur „Kirchenlehrerin“ erheben. Dabei ist sie nie „offiziell“ heiliggesprochen worden. Ihr Name steht dennoch im ersten römischen Heiligenverzeichnis (1584). Und an ihrem Todestag am 17. September feiern bis heute viele Frauen ihren Namenstag: Hildegard von Bingen ist „die wohl spannendste Frau des Mittelalters, die sich als Prophetin ihrer Zeit, als gesuchte Beraterin und langjährige Klosterleiterin, als Predigerin und Musikerin in keine Schublade einordnen lässt“, sagt Barbara Stühlmeyer, Oblatin der Abtei St. Hildegard.

Interview: Hans Baumgartner

Wenn man den Namen „Hildegard von Bingen“ bei Google oder amazon eingibt, landet man rasch bei „Naturprodukten“, Kochbüchern und Medizinratgebern. Hildegard die „Wellnessheilige“: Was stimmt davon?
Stühlmeyer: Wer Hildegard von Bingen auf Kräutertees, Dinkelschleim, Heilsteine und Bewegungstherapie verkürzt, wie das heute oft geschieht, geht völlig an dieser spannenden Frau vorbei. Hildegard ist kein „Wellness-Guru“, vielmehr ist das ebenso Herausragende wie Sperrige an ihr ihre visionäre Begabung, die Tatsache, dass sie seit ihrer Kindheit mehr und tiefer wahrnimmt als andere Menschen.  Daraus ergibt sich ihr gesamtes Werk, ihre Stühlmeyertheologischen Schriften, ihre Tätigkeit als kritische Predigerin und geistliche Begleiterin, die Art, wie sie ihre Klöster gegründet und geführt hat, ihr Wirken als gesuchte Ratgeberin von Spitzenpersönlichkeiten aus Politik und Kirche – und daraus resultiert teilweise auch ihr heilkundliches Tun.

Dr. Barbara Stühlmeyer hat sich während ihres Studiums der Theologie und Musikwissenschaften intensiv mit Hildegard von Bingen befasst. „Aus dem wissenschaftlichen Interesse ist sehr schnell mehr geworden. Ich habe mit Hildegard auch spirituell Antworten auf meine Fragen gefunden“. Stühlmeyer ist als Musikjournalistin und freie Autorin tätig. Sie ist mit einem Theologen und Musiker verheiratet, dessen Vertonung eines Marienliedes von Hildegard von Bingen erst vor kurzem uraufgeführt wurde.     (Bild/KIZ/Privat)

Heißt das, die Hildegard-Medizin basiert auf „göttlicher Eingebung“?
Stühlmeyer: Wenn heute manche so tun, als ob Hildegards Rezepturen und Therapien direkt von Gott stammen, dann ist das Unsinn. Oder wer würde heute allen Ernstes Blutdruckschwankungen dadurch behandeln, dass er Mäuse über den Körper laufen lässt. Hildegards medizinischen Schriften, soweit sie ihr überhaupt zuzuordnen sind, basieren ausdrücklich nicht auf „Visionen“. Sie geben im Großen und Ganzen den Stand der Medizin der damaligen Zeit wieder. Inwieweit Hildegard aufgrund ihrer Fähigkeit, tiefer in die Menschen und die Natur hineinzublicken, die Wirkung mancher Heilmittel und Therapien deutlicher erkannt hat als andere, wissen wir nicht. Das bietet Raum für „Geheimnis“ und Spekulation. Die entscheidende Fähigkeit Hildegards in vielen Bereichen – auch in ihrer Medizin – scheint mir ihr ganzheitlicher Blick zu sein. Aus dem heraus hat sie eine Art Kombinationstherapie entwickelt, die neben dem Körper auch die Seele mit einbezieht, und die nicht bloß die Leiden anschaut, sondern auch die Lebensführung, die Ernährung, psychische Stresszustände, seelischen Unfrieden. Aber diesen Ansatz finden wir auch schon beim alten Hippokrates, der sagt „Was das Wort nicht heilt, heilt das Kraut; was das Kraut nicht heilt, heilt das Messer; was das Messer nicht heilt, heilt der Tod.“

Erklärt das diesen Hildegard-Gesundheits-Hype? Oder was suchen die Menschen da?
Stühlmeyer: Ich denke, das hat auch viel mit unserer technisierten und auf einer ziemlich engen naturwissenschaftlichen Sichtweise
basierenden „Schulmedizin“ zu tun. Der Mensch aber ist keine Maschine und es reicht in vielen Fällen nicht aus, defekte Einzelteile zu reparieren. Wenn heute jemand mit Bluthochdruck zum Hausarzt geht, bekommt er/sie in der Regel ruckzuck eine Pille verschrieben. Hildegard hätte sich zuerst erkundigt, wie die Lebensumstände dieses Menschen sind, seine Arbeit, seine Ernährung, sein soziales Umfeld. Das ist es, was die sogenannte „alternative Medizin“ für viele so anziehend macht: Da bekomme ich mehr als nur einen Reparaturschein. Dazu kommt, ähnlich wie in der Homöopathie oder der östlichen Medizin, auch bei Hildegard manches, was mit naturwissenschaftlichen Messmethoden nicht verifizierbar scheint, wie etwa ihre Edelstein-Heilkunde. Auch dieses „Geheimnisvolle“ zieht Menschen an.

Sie haben schon darauf hingewiesen: der Blick aufs Ganze scheint auch beim Hildegard-Boom zu fehlen. Was macht sie – auch für uns heute – wirklich spannend?
Stühlmeyer: Hildegard ist, so sehe ich das, für uns so anziehend, weil sie etwas erlebt hat. Wir suchen heute – im Zeitalter der Informationsflut – nicht nach Menschen, die viel gelesen, studiert … haben, sondern nach Menschen, die etwas durch ihr Erleben verstanden haben. Die Tatsache, dass Hildegard etwas von Gott erlebt hat, das ihr Leben verändert hat – das ist für uns bedeutsam, weil wir spüren, das könnte auch mein Leben berühren und verändern.

Aber kann Hildegard mit ihren „Visionen“ da wirklich ein Vorbild sein, oder fühlen sich davon nicht eher esoterisch Angehauchte oder „Erscheinungsgläubige“ angezogen?
Stühlmeyer: Da gibt es sicher verschiedene Zugangsweisen: Da sind die einen, die so wie die ehemaligen Kanzler Schmidt und Vranitzky meinen: Wer Visionen hat, braucht einen Augenarzt. Andere würden jemandem, der/ die von Bildern erzählen würde, wie Hildegard sie gesehen hat, dringend zum Psychiater schicken. Und dann gibt es auch welche, die Hildegard als eine Art „Wundermittel“ in ihr Leben eingebaut haben, von dem sie sich Hilfe erwarten, die sie von Medizinern oder Seelsorgern nicht bekommen.

Und wie würden Sie diese Visionen sehen?
Stühlmeyer: Ich denke, das Besondere an den Visionen Hildegards ist, dass sie nicht losgelöst sind vom „normalen“ menschlichen Leben. Sie hatte einen besonderen Blick für Menschen, mit denen sie umging, für Situationen in Kirche und Welt, für die Ordnung und Unordnung in der Schöpfung. Sie sah ihre „Bilder“ nicht in der entrückten Ekstase mancher Mystiker/innen, sondern im Alltag. Es war für sie zunächst ebenso schwierig, damit umzugehen, wie es für uns weiter schwierig bleibt. Als das Kind Hildegard merkte, dass es eine Fähigkeit hatte, die niemand sonst besaß, hat sie aufgehört, davon zu reden, hat Angst bekommen, hat sich zurückgezogen. Deshalb hat sie später auch so viel Wert darauf gelegt, dass ihre Visionen durch den Papst selbst geprüft und legitimiert wurden und sie damit quasi auch als Prophetin ihrer Zeit anerkannt wurde. Viele ihrer Schriften sind erst nach dem konkreten Auftrag, ihre Visionen niederzuschreiben, entstanden. Dennoch: Das Rätsel bleibt; aber auch das Anziehende, das damals wie heute Menschen bewegt, sich Hildegard anzuvertrauen: Da ist jemand, der schaut in mich hinein, mit einem guten, wohlwollenden Blick und kann mir aus meinem Schlamassel heraushelfen.

Worin sehen Sie die zentrale Botschaft, die man von Hildegard mitnehmen kann, wofür sie steht?
Stühlmeyer: Hildegard hat zu viele Facetten, um sie über einen Leisten ziehen zu können: Für die einen ist sie eine ungewöhnlich starke Frau, die sich in der Männerwelt von Politik und Kirche behauptet hat; für andere ist sie eine unorthodoxe Theologin, eine große Liturgin und Musikerin, eine prophetisch-mutige Predigerin oder eine wichtige Beraterin. Wenn es etwas gibt, das so etwas wie der zentrale Kern ihres Lebens sein könnte, dann ist das der Satz: „Richte dein Leben ganz auf Gott aus und lebe es ganz im Vertrauen auf Gott.“

Heilsam

Einfach gut leben mit Hildegard von Bingen

Hildegard von Bingen ist die wohl bekannteste Frau des Mittelalters. Ihre Bedeutung wird heute oft auf einen kleinen Bereich ihres Wirkens, ihre Heilkunde, verkürzt. Mitte Oktober startet die KirchenZeitung eine sechsteilige Reihe über das Leben und das in vielen Formen und Facetten „heilsame“ Wirken der Hildegard von Bingen.

Autorin der Reihe ist Dr. Barbara Stühlmeyer. Sie stieß gegen Ende ihres Kirchenmusikstudiums auf die großartigen Choräle der Hildegard von Bingen. „Ich war davon so fasziniert, dass ich schon am Beginn meines anschließenden Studiums der Theologie und Musikwissenschaften wusste, das wird mein Dissertationsthema.“  Sie habe dann einige Jahre damit zugebracht, das Leben und das Werk von Hildegard zu studieren und zu verstehen, weit über die Musik hinaus. „Das hat auch dazu geführt, dass ich begonnen habe, Vorträge und Seminartage über Hildegard zu halten.“ Im Zuge ihres Studiums ist Stühlmeyer auch mit der Abtei St. Hildegard, dem Nachfolgekloster der alten Hildegard-Gründungen, und den dort lebenden Schwestern näher in Kontakt gekommen. „Ich habe da ein spirituelles Zuhause gefunden und mich deshalb auch als Laiin den Oblaten der Abtei angeschlossen.“

(Aus KirchenBlatt Nr. 37 vom 18. September 2011)