Ein Leben nach der Pensionierung. Nach allen „wichtigen Stationen“ des Lebens wie Schule, Familiengründung und Beruf. Macht das Sinn? Der Schweizer Altersforscher Dr. Urs Kalbermatten hat eine klare Antwort: JA! Wenn man sich fragt: Wer will ich werden?
Simone Rinner
In Ihren Vorträgen sprechen Sie über Alter als das „Meisterstück“ des Lebens. Warum Meisterstück?
Kalbermatten: Das ganze Leben sind wir wie fremdbestimmt. In jungen Jahren muss man zur Schule, dann kommt Beruf, Militär und Familie und es ist keine Frage was man macht. Für das Alter hat die Gesellschaft nichts ähnliches vorgesehen. Man hat plötzlich 20, 30 Jahre Freiraum und die sind gesellschaftlich unterdeterminiert. Man muss selber schauen: Mit was fülle ich jetzt mein Leben? Woran finde ich Sinn? Sich mit dieser Sinnfrage auseinanderzusetzen, das ist einerseits ein Meisterstück, andererseits kommen ganz viele Herausforderungen auf den älteren Menschen zu.
Welche Herausforderungen sind das?
Kalbermatten: Verwitwung, Todesfall in der Familie, Krankheit, Abbauprozesse - ich sehe schlechter, ich höre schlechter. Und natürlich die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit. Da braucht es einen reifen Menschen, dass er dem ins Gesicht schaut und in Anbetracht des Todes sein Leben gestaltet. Und das ist wie ein Meisterstück - sich in allen Facetten des Lebens zu akzeptieren und zum Alter, sowohl zu seinen guten, als auch zu seinen schlechten Seiten, ja zu sagen.
Im Zentrum Ihrer Altersforschung steht das Konzept „Lebensgestaltung“. Was ist damit gemeint?
Kalbermatten: Wir haben die Wahlmöglichkeit, welche Gestaltung wir unserem Leben geben möchten. Wir sind Individuen, soziale Wesen und unser Leben ist durch die Gesellschaft und die Familie, in der wir leben, begrenzt. In diesem Rahmen haben wir eine gewisse Gestaltungsmöglichkeit - das kann auch ein bewusster Prozess sein. Wenn wir älter sind, haben wir mehr Freiheitsgrade - und so stellt sich im Alter nicht die Frage „Wer war ich?“, sondern „Wer will ich werden?“. Das Leben ist nie abgeschlossen, wir sind immer Werdende, bis in den Tod. Und besonders angesichts des Todes kommt die Frage: Was macht Sinn? Welche Gestalt will ich meinem Leben geben? Und das ist nicht vorgegeben.
Inwieweit können wir als Gesellschaft älteren Menschen bei der Lebensgestaltung helfen?
Kalbermatten: Zunächst sollte diese Lebensphase nicht mehr „Ruhestand“ genannt werden. Ruhestand ist wie „Ruhe geben“ und „stehen bleiben“ - wie die Vorbereitung auf die ewige Ruhe. Das ist nicht mehr adäquat. Auch als alter Mensch muss man sich verantwortlich fühlen, sich informieren was in der Gesellschaft oder in der Politik läuft. Man ist im Alter heute nicht entpflichtet, sondern sogar aufgefordert, mehr zu partizipieren als früher.
„Die Kirche hat hier in Österreich eine Verantwortung übernommen - eine Dienstleistung am älteren Menschen, die auch das Soziale oder Bildung beinhaltet.“
Dann hat sich im Gegensatz zu den früheren Generationen von älteren Menschen etwas geändert?
Kalbermatten: Das Alter ist heute eine Lebensphase geworden, die etwa 20 bis 30 Jahre dauert. Das ist noch mal wie ein ganzer Lebensentwurf. Früher war Alter wie eine Restzeit. Heute ist das eine lange Phase, in der man auch viel länger körperlich und geistig fit ist.
Also hat sich „das Alter“ verändert?
Kalbermatten: Sicher. Alter dauert heute ja erheblich länger, als Kindheit und Jugend zusammen. Es ist anspruchsvoller geworden. Und dieser hohe Grad an Selbstbestimmung ist auch mit mehr Mitverantwortung für sich selber gebunden. Mitverantwortung für die Mitmenschen, für die Umwelt. Alter ist eine Suche nach Sinn. Nach sinnvoller Tätigkeit. Und es ist nicht die Menge, sondern diese Sinnfindung. Rein nach der Bibel heißt es, man soll seine Talente nutzen. Das gilt unabdingbar auch für das Alter.
Welche Bedeutung hat Religion Ihrer Meinung nach im Alter?
Kalbermatten: Ich finde eines der positivsten Aspekte der Religion ist, dass wir eine Gemeinschaft bilden. Und dieses soziale Getragensein in einer Gemeinschaft, das ist das, was die alten Menschen auch suchen. Das gibt eine gewisse Sicherheit. Liebe ist ja eigentlich das Wichtigste in unserer Religion. Diese Liebe auf etwas zu richten, das ist wahrscheinlich das Urchristlichste. Und gut zu altern heißt primär, sich selber zu lieben. Sich selber in dem Sinn zu gestalten, zu schöpfen, in dem ich mich liebe und annehme als älteren Menschen. Und aus meinem Leben etwas mache. Das ist für mich christliches Leben. Die Kirche sagt ja: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, also die Bedingung Mitmenschen zu lieben, etwas Gutes zu tun, seine Talente zu nutzen, fängt bei sich selber an. Zuerst muss ich mich lieben, mich annehmen. Das ist der Weg zum Mitmenschen.
Mittlerweile gibt es ja eine Reihe an Angeboten zur Förderung älterer Menschen. Wie stehen Sie zu diesen?
Kalbermatten: Ich denke sie sind sehr sinnvoll. Primär ist dabei das Soziale wichtig. Das Unter-Menschen-Sein. Und dann kommt natürlich noch das, was angeboten wird für Körper und Geist. Aber ich kann nicht ewig in der Vergangenheit leben, sondern muss mich auch mit Neuem auseinandersetzen. Zum Beispiel: Wie gestalte ich mein Leben, wenn ich nicht mehr Auto fahren kann? Wenn ich nicht mehr gehen kann? Wenn ich alleine bin? Also die Leute auf Neues vorbereiten, nicht ewig nachtrauern.
Ältere Menschen sollten also nicht nur in der Vergangenheit leben?
Kalbermatten: Das Neue ist wichtig, nicht nur um Demenz vorzubeugen. Die Gefahr ist, dass wir in unserer Gesellschaft am meisten Sinn und Wertschätzung über die Arbeit bekommen. Und jetzt ist die plötzlich nicht mehr da. Da ist es schwierig, sich über Neues zu definieren. Neue Aspekte ins Leben zu bringen. Nutze dein Alter!
Welche Rolle spielt hier die Kirche?
Kalbermatten: Ich finde im Vergleich zu anderen Ländern macht die katholische Kirche hier in Österreich ganz viel. In der Schweiz gibt es zum Beispiel nur Pro Senectute. Die machen riesig viel mit Bildung, Sport und Beratung.
Und der religiöse Aspekt?
Kalbermatten: Der fehlt bei Pro Senectute natürlich. Die Kirche hat hier in Österreich eine Verantwortung übernommen - eine Dienstleistung am älteren Menschen, die auch das Soziale oder Bildung beinhaltet. Ich nehme das als sehr positiv wahr. Die Kirche ist ein wichtiger Mitspieler in der Altersarbeit - in Österreich stärker, als in anderen Ländern.
Sie betonen immer wieder, wie wichtig es ist, sein Alter zu nutzen und sinnvoll zu handeln. Spielt da auch der Glaube eine Rolle?
Kalbermatten: Im Alter hat man mehr Zeit und die Nähe zum Tod wirkt wie ein Katalysator. Man muss noch mal auf Hochtouren kommen. Der Tod und die Endlichkeit bewirken, dass man sinnvoll handelt, dass man reflektiert und sich besinnt - „Was ist verantwortlich gutes Handeln?“. Das ist für mich die christliche Botschaft. Wenn man x-Mal auf die Welt käme, dann könnte man leben wie man will und es hätte alles keine Konsequenzen. So aber heißt es „Nutze dein Alter“ und unser Glaube ist nun mal das, was wir mitbringen uns zu orientieren. Glaube ist eben nicht Beweis und Wissen.
ZUR PERSON
Urs Kalbermatten
Ich fange eine Schnitzerlehre an!
Begriffe wie Lebensgestaltung und Gerontologie sind für Prof. Dr. Urs Kalbermatten keine Fremdwörter, sondern gewissermaßen sein Lebensinhalt - zumindest in beruflicher Hinsicht.
Gerontologie
Seit mehr als 20 Jahren beschäftigt sich der Schweizer mit Themen der Altersforschung, im Fachjargon auch „Gerontologie“ genannt. Seit 2003 ist Kalber-matten nicht nur wissenschaftlicher Leiter, sondern auch Dozent und Studienleiter des Kompetenzzentrums für Gerontologie der Berner Fachhoch-schule. In seiner fast 40 Jahre andauernden akademischen Karriere brachte er bisher unzählige Publikationen zu Themen rund ums Alter hervor. Forschungs-schwerpunkte bildeten dabei Bildung, Ernährung und Wohnen im Alter, Paarbeziehungen im Übergang zur Pensionierung sowie die Diskriminierung älterer Menschen.
Pension
Auf die Frage, ob er „sein Alter“ schon geplant hat, lächelt er verschmitzt. „Sicher!“ meint der 64-Jährige. Er habe die Botanik, die Ornithologie und die Schmetterlinge für sich entdeckt. Was er nach seiner Pensionierung 2012 macht? „Ich fange eine Schnitzerlehre an“. Zuletzt war Urs Kalbermatten in Vorarlberg bei der Jahreshauptvesammlung des Katholischen Bildungswerks in Wald a. A. zu Gast. Einen Bildbericht zur Jahreshauptversammlung finden Sie auf den nächsten beiden Seiten
(Kirchenblatt Nr. 27 vom 10. Juli 2011)