Dr. Agnes Juen über die Bibel als Buch der gesammelten Erfahrungen der Menschheitsgeschichte.

Die Erfahrungen der Bibel können uns öffnen für die Tiefe unserer eigenen Existenz

Vielen erscheint die Bibel als rätselhaftes Buch. Wer sich aber darauf einlässt, entdeckt im Buch der Bücher die gesammelten Erfahrungen der Menschheitsgeschichte: Sehnsüchte und Hoffnungen der Menschen ebenso wie ihr Scheitern und Versagen. Und über allem die Wendung zum Heil.

Agnes Juen

Dr. Agnes Juen
betreut im Pastoralamt das Projekt "Bibel einfach lesen"

Die modernen Medien ermöglichen es uns, Nachrichten und persönliche Botschaften in Windeseile zu senden. Doch manch einer stöhnt unter der Flut an Nachrichten. Die Fülle an Möglichkeiten hat die Sehnsucht nach einem Gegentrend ausgelöst: Gefragt ist die Fähigkeit zur Verlangsamung und zur überlegten Auswahl. Erst die bewusste Entscheidung für eine Möglichkeit ermöglicht ein intensiveres Erleben. Das Ankommen bei sich, das achtsame Leben im Hier und Jetzt und persönliche Begegnungen gewinnen wieder an Wert. Eine solche Wendung birgt die Chance, im alltäglichen Dasein den Ort des Glücks und der Begegnung zu finden, sich selbst zu engagieren und das Leben aktiv zu gestalten.

Die Bibel erzählt von der Sehnsucht der Menschen
Diese Sehnsucht verbindet uns mit den Menschen früherer Zeiten. Ich denke, dass die  Zeit Jesu, die multikulturelle Welt mit ihren Herausforderungen und Angeboten, einige Ähnlichkeiten mit unserer Zeit aufzuweisen hat. Es gab griechische Lebensweisheiten, politische Unabhängigkeitsbewegungen sowie die römische Wohlstandskultur. In dieser Welt waren Menschen von Jesus fasziniert, so sehr, dass sie ihr Leben neu orientierten. Nicht nur das: Sie steckten andere an und erzählten ihre Wandlungsgeschichten weiter. Ich finde es super, dass uns diese Erfahrungen überliefert wurden. Was man sich ursprünglich nur von Mund zu Mund weitererzählte, wurde allmählich verschriftlicht und kommenden Generationen weitergegeben.

Im Zentrum: die Person Jesu
So bereichernd es für alle Religionen ist, dass sie ihre Heiligen Bücher haben, so ist es für mich doch ausschlaggebend, dass unser Selbstverständnis als Christen nicht in einem Buch, sondern in der Person Jesu wurzelt. Seine Worte und seine Taten sind heute noch richtungsweisend. Sind sie wirklich von Interesse? Ich denke ja - überall dort, wo wieder Zeit und Raum ist für ursprüngliche religiöse Erfahrungen.
Wer von Gott immer wieder neu berührt ist, wird auch heute in Menschen diese ursprüngliche Lebendigkeit wecken, die die Menschen der Bibel bewegt hat. Es waren ähnliche Fragen wie heute: Bewältigung von Ängsten, Todeserfahrungen, depressive Verstimmungen, Zukunftssorgen. Auch damals fragten sich die Menschen angesichts der Vielfalt der heidnischen Götterwelten: Was trägt? Was gibt uns wirklich Trost und Hoffnung. Sie fanden die Quelle und die lebenstragende Kraft bei Menschen, die sich auf den einen Gott einlassen konnten. Was wir heute brauchen - auch in unseren Pfarrgemeinden -, ist der Zugang zu unseren tiefen christlichen Glaubensquellen - zur Bibel als dem lebendigen Wort Gottes.

Erst der Glaube lässt uns ganz Mensch werden
Vor einigen Jahren konnte ich in Indien recht lebendige Gottesdienste erleben. Es gibt dort in den Kirchen jeweils zwei Tabernakel. Einer ist für das heilige Brot, der andere für das heilige Wort. Der Glaube dieser Menschen lässt das Wort leibhaftig werden. Es wird zum Begegnungsraum mit Gott. Denn das Wort der Bibel ist die verdichtete Erfahrung der Menschen mit Gott und ein Anstoß zu einem gerechteren, menschlicheren Leben. Die Erinnerung an den hingerichteten Propheten Jesus und an den von ihm verkündeten Gott kann nicht ausgelöscht werden. Dieser Jesus löst in der Geschichte eine einmalige Dynamik aus. Christsein und Menschsein sind seither nicht zwei getrennte Welten. Christsein ist der Versuch eines radikalen Menschseins. Je menschlicher - desto christlicher, desto göttlicher und je göttlicher - desto menschlicher.
Agnes Juen

Die Bibel "einfach lesen"

Dr. Agnes Juen betreut im Pastoralamt das Projekt „Bibel einfach lesen”.

Es gibt einen neuen Kurs des Katholischen Bildungswerks: „Bibel einfach lesen“ ist eine grundlegende und verständliche Einführung in das Buch der Bücher. Die Reise durch die Bibel eröffnet neue Horizonte und interessante Erfahrungen und sie macht neugierig auf weitere Auseinandersetzungen. Die Kursreihe ist methodisch abwechslungsreich aufgebaut, es sind keine Vorkenntnisse nötig.

Verschiedene Zugänge erleichtern den persönlichen Umgang mit der Bibel als Wort Gottes und als einzigartiges Werk der Weltliteratur. Im Kurs werden auch vielfältige Methoden vorgestellt, wie in Gruppen mit der Bibel gearbeitet werden kann. Das gemeinsame Arbeiten in der Gruppe hilft dabei, Unsicherheiten zu überwinden und voneinander zu profitieren. So lassen sich Antworten finden auf Fragen wie: „Was steht denn alles in der Bibel?” oder „Wie kann man die Bibel lesen und verstehen?”, „Wie sie im Leben anwenden?”

Für ihr Glaubensseminar zur Fastenzeit wählte die Pfarre Bludenz-Hl. Kreuz diesen Kurs und konnte damit sehr gute Erfahrungen machen. An vier Abenden vertieften sich an die 30 Teilnehmer/innen in die Bibel, lernten historische und kulturelle Hintergründe kennen und diskutierten ihre Bedeutung für ihr persönliches Leben. Zum Abschluss bildete sich aus dem Glaubens-seminar eine Bibelgruppe, die sich nun 14-tägig mit der Bibel beschäftigen will.

(aus KirchenBlatt Nr. 20 vom 23. Mai 2010)