P. Christoph Müller schreibt über "seinen Jakobsweg" und stellt sein Buch "Neuland unter den Sandalen" vor.

Dass er damals den Schritt ins Internat von Einsiedeln tat, habe mit seiner Faszination für afrikanische Wildtiere zu tun, gesteht P. Christoph Müller. Er wollte als Missionar unter Löwen und Giraffen leben. Im Laufe der Zeit aber verblassten die Bilder von Elefanten und Hyänen. Als Novizenmeister beschäftigte sich P. Christoph mehr mit den Novizen des Klosters. Und obwohl sich die Benediktiner auf die „Beständigkeit des Ortes” verpflichten, bekam er Lust, Neuland unter seine Sandalen zu nehmen: Er machte sich auf den Weg nach Santiago.

P. Christoph MüllerP. Christoph Müller:

Es war noch dunkel, als ich es in meiner Schlafecke nicht mehr aushielt. Ich wollte jetzt endgültig wissen, was heute auf mich wartete. Vorsichtig belastete ich den entzündeten Fuß. Die Eiswürfel vom Vorabend hatten gut getan. Humpelnd lief ich in die sternenklare Nacht hinaus, ohne Frühstück, ohne Zähneputzen, mit viel Sand im Haar. Ich bewegte mich bewusst langsam, fast tastend vorwärts.

Ein lang-weiliger Weg.
Der Weg zog sich nun in einer unendlich scheinenden Landschaft dahin. Er war flankiert von einer endlosen Baumallee. Die EU hatte entlang dieses Abschnittes Tausende von Bäumen pflanzen lassen, im Abstand von exakt neun Metern. Da standen sie nun, militärisch angeordnet wie Straßenlaternen. Im Sommer der brütenden Hitze, im Winter den eisigen Winden ausgesetzt, schwiegen sie vor sich hin. Sie sahen Tausende von Pilgern vorüberziehen. Es zogen da Gruppen vorüber, die lachten und schwatzen. Und es kamen schweigsame Einzelpilger vorbei. Ich war mir sicher, dass die sensiblen Bäumchen das alles irgendwie in sich aufnahmen. Einige waren damit wohl an ihre Grenzen gestoßen und abgestorben. Daher gab es einige Lücken in ihrer pazifistischen Phalanx. Dieser Teil des Jakobsweges war lang-weilig, das heißt von langen Weilen geprägt. Es gibt auf dem Jakobsweg natürlich auch viele kurze Weilen, über die man gut erzählen kann: Hier ein Missgeschick, dort eine glückliche Fügung. Doch über weite Strecken des Camino dominieren die langen Weilen.

Einen Fuß vor den andern setzen.
Es ist lang-weilig, über die langen Weilen zu berichten, denn es passiert nichts, außer dass man einen Fuß vor den andern setzt. Was dabei im Pilger vor sich geht, ist unklar. Es gibt Phasen, wo Vergangenes, Gegenwärtiges oder Zukünftiges ohne erkennbare Reihenfolge und Logik durch des Pilgers Kopf wirbeln. Dann wieder sind Zeiten angesagt, wo ihn tiefe Ruhe erfüllen. Fragt mich jemand nach dem Besonderen des Jakobsweges, so ist das für mich nicht die Ankunft in Santiago oder diese und jene kurzweilige Episode. Das Entscheidende liegt in der Erfahrung dieser langen Weilen. Und die lassen sich nicht in Worte fassen. Es passiert da eben nichts. Aber genau darin gründet das Geheimnis des Weges.

Als ich den Weg unter die Füße nahm, stellte ich mir vor, dass ich unendlich Zeit für das Gebet hätte. Zeit hatte ich tatsächlich viel. Aber mit dem Gebet ging es nicht so wie geplant. Es gibt Pilger, die unterwegs stundenlang den Rosenkranz beten können. Ich bewundere sie. Bei mir schlugen alle diesbezüglichen Versuche fehl, mit Ausnahme des Gesätzchens „den du zu Elisabeth getragen hast“. Und doch … Die meisten der traditionellen Gebetsarten blieben auf der Strecke.

An ihre Stelle trat eine neue Art des Betens. Man könnte sie mit dem Gebet kranker Menschen vergleichen. Denn diese haben ja, da sie oft allein sind, eigentlich viel Zeit zum Beten, so wie ein Jakobspilger. Aber ausgerechnet jetzt will es nicht (mehr) gehen. Ich denke da an Bruder Anton, der jahrzehntelang in unserer Küche arbeitete. Täglich stand er um 3 Uhr auf, damit er genug Zeit hatte, um alle seine Gebete unterzubringen. Als er schwer krank wurde, lag er aufgedunsen in seinem Bett. Jetzt hatte er endlich Tag und Nacht Zeit zum Beten. Aber dem war nicht so. Immer wieder seufzte er: „Cha nümme bätte, cha nümme bätte“ Er konnte tatsächlich nicht mehr beten. Oder besser gesagt: Nicht mehr so beten, wie er es von früher her gewöhnt war.

Nur schwer sah er ein, dass mit seinem jetzigen Zustand eine neue Art des Betens begonnen hatte, wo der Mensch nichts mehr tut und nur noch der Empfangende ist. Es genügt dann, einfach da zu sein, stundenlang, wortlos, leer, leidend, aber ganz in der Gegenwart dessen, der sich beim brennenden Dornbusch offenbarte als der „Ich bin da, wo du bist“ (Martin Buber). Da gibt der Mensch die Initiative aus der Hand. Er ist nur noch da, in der Gegenwart Gottes. Und das muss genügen.

Ein Benediktiner auf dem Jakobsweg

P. Christoph Müller, geboren 1947 in Lausanne, ist seit 1969 Benediktiner des Klosters Einsiedeln. Lange Jahre war er als Novizenmeister sowie als Lehrer und Präfekt an der Stiftsschule tätig. Er ist Pfarrer von Blons und St. Gerold.

Im Sommer 2003 machte sich P. Christoph auf den Weg und ließ die Einsiedler Klosterpforte hinter sich. Per Fahrrad ging es durch die Schweiz und Frankreich nach Spanien, wo er seinen Pilgerweg zu Fuß fortsetzte. Seine Erlebnisse und Erinnerungen sind zunächst in der Einsiedler Klosterzeitschrift und nun auch in Buchform erschienen. Entgegen P. Christophs Vorliebe für die „Langeweile“ ist das Buch durchaus unterhaltsam und amüsant zu lesen.

Christoph Müller OSB: „Neuland unter den Sandalen. Tyrolia, 204 Seiten, E 14,95.

(aus KirchenBlatt Nr. 13/14 vom 4. April 2010)