5-teilige KirchenBlatt-Serie zur "Woche für das Leben" von Dr. Stefan Schlager

„Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben, und es in Fülle haben“, lesen wir im Johannesevangelium. Ob wir einen engen oder weiten Blick haben, das kann Leben ermöglichen oder behindern.

Mit keinem anderen Sinnesorgan kann der Mensch so viele Informationen in so kurzer Zeit aufnehmen wie mit dem Auge. Mindestens siebzig Prozent aller für uns wichtigen Informationen gelangen durch das Sehsystem (Auge, Sehnerv, Sehzentrum etc.) in das Gehirn. Es dauert jedoch einige Zeit, bis das Sehen voll entwickelt ist. So sieht ein Baby zunächst die Welt noch ungenau – mit einer geringen Auflösung und mit wenigen Farben. Der Säugling nimmt zudem auch nur wahr, was sich unmittelbar vor seinen Augen befindet. Auf diese Weise wird das unreife Gehirn vor Reizüberflutung geschützt. Erst mit der Zeit öffnet sich der Blick immer weiter und die Sehnerven, die vom Auge zum Gehirn verlaufen, reifen aus. Etwa mit dem sechsten Lebensjahr ist die Verschaltung mit dem Gehirn fertig ausgebildet, und das Kind erreicht jetzt eine Sehschärfe von hundert Prozent.
Faszinierend ist die Fähigkeit des Auges, mit Hilfe der Linsenbänder und der damit verbundenen Veränderungen der Linsenwölbung sich selbstständig auf nahe oder ferne Gegenstände einzustellen. Und so rückt das in den Blick, was vor Augen liegt, aber auch der Blick in die Weite wird möglich.

Perspektivenwechsel
Das zu sehen, was nahe liegend ist, aber ebenso ein weiter Blick über die Enge hinaus  – darum geht es auch im Leben selbst. Nicht immer gelingt es hier jedoch, das Naheliegende zu sehen oder einen Weitblick zu haben. Mitunter hat jeder von uns auch seine blinden Flecken. Dabei hängt von der Sichtweise auf das Leben, vom engen oder vom weiten Blick Entscheidendes ab. Das hat der Wiener Psychologe Viktor Frankl besonders gut erkannt und zur Grundlage seiner Arbeit gemacht: Inmitten der „Hölle“ der Konzentrationslager ist er zur einer Sichtweise gekommen, die ihm und anderen das Überleben gesichert hat – und die auch für unsere Zeit und das Gelingen unseres Lebens von großer Bedeutung ist. Anstatt sich nämlich vom lähmenden Blick auf das Negative leiten zu lassen, hat Frankl einen neuen mobilisierenden Blick gewonnen. Er hat es geschafft, die Perspektive zu wechseln: weg vom resignierenden  „Was habe ich vom Leben noch zu erwarten“ hin zum herausfordernden „Was erwartet das Leben von mir jetzt“.

Diese Änderung der Blickrichtung ermöglichte es ihm, inmitten von kalter Finsternis Sinn zu entdecken und trotz allem ja zum Leben zu sagen.

Reich-Gottes-Blick
Ein neuer Blick auf das Leben, auf sich selbst, auf die anderen, auf die Welt und auf Gott – darum ging bzw. geht es auch Jesus. Er hat die Menschen zu einem alles verwandelnden „Reich-Gottes-Blick“ eingeladen: Wer nämlich Augen bekommt für das jetzt schon befreiende Dasein Gottes, wer zu sehen lernt, wie die so ganz andere „Logik“ Gottes bereits wirkt (z. B. Großherzigkeit statt streng kalkulierender Gerechtigkeit), der versteht sein eigenes Dasein von der Fülle her und nicht vom Mangel, der fühlt sich beschenkt und nicht zu kurz gekommen, der sieht im anderen nicht den Feind, sondern den Bruder, der riskiert Veränderung statt Stillstand.
Mit diesem neuen „Reich-Gottes-Blick“ sind deshalb stets ein neues Handeln und ein neues Daseinsgefühl verbunden.

Der Blick Jesu richtet auf

Im Lukasevangelium (13, 10–13) gibt es einen markanten Text von der Kraft des „Reich-Gottes-Blickes“. Jesus trifft eine Frau, die seit achtzehn Jahren gekrümmt ist. Ihr Blick, ihr Horizont ist auf das Unschöne, das Staubige und Ausgetretene eingeengt. Diese Frau nimmt Jesus ganz bewusst wahr – und er berührt sie: mit seinem Dasein und der hautnahen Erfahrung von Gottes befreiender Nähe! Dadurch verändert sich für die Gebückte Grundlegendes. Sie erlebt, wie das, was sie verbogen, klein gemacht und den Blick eingeengt hat, aufhört. Ein neuer Blick, ein weiter Horizont, ein aufrechter Gang werden möglich. Mit der äußeren Heilung geht eine innere Heilung einher.

Eine Arbeitskollegin, die selbst im Rollstuhl sitzt, hat mir einen interessanten Zugang zu dieser Erzählung eröffnet. Sie hat die Erfahrung von Heilung in ihrem Leben mit der „täglichen Fahrt nach Neu-Seh-Land“ umschrieben. Diese vermag dem, der sich darauf einlässt, das eigene Leben zu weiten, zu heilen und zu bereichern. Ein Vorgeschmack von Erlösung, von vollem Leben – jetzt schon.
Stefan Schlager