5teilige KirchenBlatt-Serie zur "Woche für das Leben" von Dr. Stefan Schlager

Ich kann dich (nicht) riechen

„Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben, und es in Fülle haben“, lesen wir im Johannesevangelium. Unversöhnte Situationen belasten das Leben, machen krank. Oft kommt es auf den „ersten Schritt“ an. 

Der komplexeste chemische Sinn beim Menschen ist das Riechen. Er ist bei der Geburt bereits vollständig ausgebildet. Später wird er dann alle 60 Tage erneuert. Dabei sterben die überbeanspruchten Riechzellen ab und werden durch die Basiszellen ersetzt. Der Mensch besitzt rund 30 Millionen Riechzellen, die zu 350 Riechzellentypen gehören. Auf diese Weise sind wir in der Lage, tausende verschiedene Gerüche wahrzunehmen. Schon eine außerordentlich geringe Menge bewirkt bei uns ein Geruchsempfinden. So wird etwa Moschus noch wahrgenommen, wenn der Nase weniger als ein halbes Millionstel Milligramm eines Moschusextrakts „vorgesetzt“ werden. Versuche bei Babys haben gezeigt, dass auch sie bestimmte Vorprägungen haben. Sie reagieren etwa bei Vanilleduft anders als bei einem Fisch. Während das Baby das eine als angenehm empfindet, rümpft es beim anderen die Nase. Wahrscheinlich hat das Riechen bzw. Unterscheiden von angenehmen und unangenehmen Gerüchen eine Schutzfunktion und möchte den Säugling daran hindern, lebensgefährliche Stoffe aufzunehmen. Und wer selbst einmal an der Haut und den Haaren eines Babys gerochen hat, dem wird sicher der angenehme Duft aufgefallen sein.

Macht über das Leben
Vielleicht hängt der Satz „Ich kann dich gut riechen“ mit dieser Erfahrung zusammen. Das heißt dann, dass man die Nähe eines Menschen, ihn selbst und das, wofür er steht, was er spricht und tut, schätzt. Umgekehrt gibt es die Redewendung: „Ich kann dich nicht (gut) riechen“. Wer das sagt, der bzw. die bringt damit zum Ausdruck, dass er oder sie mit jemandem überhaupt nicht „kann“, ja eigentlich unversöhnt ist. Das Fatale am Unversöhnt-Sein ist die „Haftkraft“: Wer über längere Zeit unversöhnt lebt, wer über Wochen, Monate oder gar Jahre einen anderen nicht riechen kann, der bzw. die bleibt dadurch im Unheilvollen verhaftet. Auf diese Weise kann das Vergangene, der Konflikt, die üble Tat oder die schlechte Nachrede eine ungeheure Macht über das eigene Leben bekommen.
Helfen kann in dieser Situation wohl nur eines: der Versuch, sich zu versöhnen. Versöhnung heißt dabei: das Geschehene zu benennen und aufs Tapet zu bringen – und so darüber zu sprechen, dass nicht wieder ein negativer Kreislauf entsteht, sondern man aufeinander hört. Zugleich heißt Versöhnung auch, verzeihen und vergeben zu wagen, diejenigen, die Schuld zugefügt haben, zu „ent-schuldigen“ und eine erlittene Verletzung nicht mehr anzurechnen.

Machen frei
Solche Versöhnung und Vergebung kosten Kraft – und sicher auch Überwindung. Sie bedeuten harte, mitunter jahrelange Arbeit. Aber Versöhnung und Vergebung zahlen sich aus, denn Versöhnung und Vergebung „entbinden“ vom Belastenden und machen auf diese Weise vom Vergangenen frei. Es entsteht ein neuer Frei-Raum, innerer Friede und Friede mit dem „Feind“.

In den Startlöchern der Versöhnung

In der Bergpredigt begegnet eine wichtige Voraussetzung für diese so gar nicht leichte Versöhnungsarbeit, nämlich der nüchterne und ehrliche Blick auf sich selbst: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge be-merkst du nicht?“ (Matthäus 7, 3).
Worauf es ankommt, ist also zu erkennen, dass ich – tagtäglich – auf Vergebung angewiesen bin. So sind die eigenen Kinder, der Partner/die Partnerin, die Nachbarn oder die Arbeitskolleg/innen immer wieder herausgefordert, mich mit meinen Fehlern von neuem auszuhalten und es wieder mit mir zu probieren. Es ist demnach gar nicht so selbstverständlich, dass mich die anderen gut riechen können. Wenn das bewusst ist, dann gelingt es leichter, selbst Vergebung zu wagen.

Im Besonderen geht es bei der Versöhnung darum, sich aus der eigenen Reserviertheit, dem eigenen Stolz und der eigenen Rechthaberei herauslocken zu lassen. Ich denke, dass hier der Blick auf Gott weiterhelfen kann: Im Gleichnis vom barmherzigen Vater (Lukas 15, 11–32) begegnet ein Gott, der in den „Startlöchern“ der Vergebung steht. Noch bevor der heimkehrende Sohn
seine Schuld und alles, was damit zusammenhängt, aussprechen kann, läuft der Vater seinem Sohn schon entgegen. Er fällt ihm um den Hals und küsst ihn. So groß sind sein Herz und seine Versöhnungsbereitschaft. Könnte das auch nicht uns zum so schwierigen „ersten Schritt“ motivieren?

(aus KirchenBlatt Nr. 23 vom 13.Juni 2010)