5-teilige KirchenBlatt-Serie zur Woche des Lebens vom 30. Mai bis 6. Juni von Dr. Stefan Schlager.

Das Leben anvertraut

„Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben, und es in Fülle haben“, lesen wir im Johannesevangelium. Jeder und jedem von uns ist Leben anvertraut, damit es sich entfalten kann.

Das erste wahrnehmbare Signal, das von einem menschlichen Leben ausgesandt wird, sind die Herztöne. Sie sind bereits ab dem 23. Tag nach der Verschmelzung der Vorkerne von Samen- und Eizelle zu beobachten. Diese „Klopfzeichen“ zeigen unüberseh-bar, dass der ungefähr fünf Millimeter große Embryo lebt. Ab dem Zeitpunkt des ersten Schlagens wird das Herz seine Arbeit nun
Sekunde um Sekunde tun, und das jahrzehntelang – ohne dabei eine Pause zu machen. Durchschnittlich schlägt das Herz eines Menschen 80-mal in der Minute, 4800-mal in der Stunde, 115.200-mal am Tag … Dabei pumpt es mit jedem Schlag Blut von der Menge eines kleinen Wasserglases durch die Adern. Das sind pro Minute rund 5 Liter und mehr als 7200 Liter am Tag. Auf diese Weise versorgt das Herz – in Kooperation mit der Lunge – die inneren Organe, die Muskulatur sowie das Gehirn mit Sauerstoff und anderen lebenswichtigen Substanzen. Um das alles zu bewältigen, wendet das Herz täglich soviel Energie auf, wie ein Mensch brauchen würde, um einen ganzen Güterwaggon einen Meter hoch zu heben.

Im Herzschlag.
Es verwundert daher nicht, dass das Herz ein sehr „emotionales“ Organ ist. Alleine sein Schlagen vermittelt jedem von uns spürbar, dass wir leben. Und wenn sich zwei Menschen begegnen, die sich mehr als sympathisch finden, meldet sich wieder das Herz. Ebenso kann einem bei einem Schicksalsschlag fast das Herz stehen bleiben. Sehr gut kann ich mich noch erinnern, wie mir bei den ersten Ultraschalluntersuchungen die Herzschläge unserer drei Mädchen zu Herzen gegangen sind. In all diesen Erfahrungen ist zugleich auch ein besonderer Zugang zum Leben enthalten: ein Zugang, der darum weiß, wie wichtig es ist, auf sein Herz zu hören bzw. sich etwas zu Herzen gehen zu lassen. Sei es in der Begleitung von Kindern, sei es in der alltäglichen Gestaltung der Partnerschaft oder bei der Pflege eines Angehörigen – wichtig in diesen anspruchsvollen Aufgaben ist es, sich den Blick dafür zu bewahren, was einem am Herzen liegt, für wen und wofür das eigene Herz schlägt, wem man sein Herz schenkt.

Im Windelberg.
Im Alltag ist es aber nicht immer leicht, sich diesen Blick zu bewahren und auf sein Herz zu hören. Gute Erfahrungen, wie das gelingen kann, gibt es mit der „aufmerksamen Betrachtung des Tages“. Wer sich am Ende eines Tages eine wertschätzende „Verkostung“ des Erlebten gönnt, der lernt auf sein Herz zu hören, dem bzw. der wird bewusst, was einem kostbar und wichtig ist, wofür man seine Kräfte einsetzt und wofür man danke sagt. Dieses „Wissen“ ist insofern hilfreich, weil es – um ein mir nahes Beispiel zu nennen – Geduld und langen Atem geben kann inmitten von vollen Windeln, von zu suchenden Haargummis und von gleichzeitig eingeforderter Hilfe bei den Hausübungen. Das Wissen, warum man etwas tut, hilft beim Tun selbst.

Im Fühlen.
Wichtig für das Zusammenleben ist noch ein Zweites – das Einfühlungsvermögen: sich einfühlen können, was sich im Herzen des anderen abspielt, was ihm oder ihr gerade am Herzen liegt oder zu Herzen geht. Diese Fähigkeit war eines der „Geheimnisse“ des Jesus von Nazaret.
Stefan Schlager

Wer einmal davon angesteckt ist

Im Neuen Testament gibt es einen Text, der zeigt, warum Jesus das auf so befreiende Art möglich war, sich in „die Herzen“ anderer einzufühlen – die Seligpreisungen (Matthäus 5, 3–12). Spannend sind diese acht Seligpreisungen bzw. Beglückwünschungen, weil sie eine „Ansteckungsgefahr“ beinhalten. Wer einmal von Gottes Interesse für den Menschen, von seiner Feinfühligkeit für Trauernde, von seiner Gerechtigkeit für Zu-kurz-Gekommene, von seiner Leidenschaft und seinem Herz für Arme, von seinem Mut zur Sanftheit infiziert wurde, der oder die ist nicht mehr immun gegenüber dem Nächsten und seinen Anliegen. Diese Person riskiert dann selbst – bereichert und beschenkt –  wovon sie „gekostet“ hat.

Wer aber fähig ist zum Mitleiden, wer es versucht, dem bzw. der anderen zu gönnen, was er oder sie braucht, wer es wagt, in die Haut des anderen zu schlüpfen und sich in dessen Herz einzufühlen, der bzw. die kann tatsächlich zu einem reichen und erfüllten Leben beglückwünscht werden.
Stefan Schlager

(aus KirchenBlatt Nr. 22 vom 6. Juni 2010)