5-teilige KirchenBlatt-Serie zur Woche des Lebens vom 30. Mai bis 6. Juni von Dr. Stefan Schlager.

Dem Leben zugewandt

„Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“, hören wir im Johannesevangelium (10, 10). Das Ohr ist eines unserer wesentlichen „Lebensorgane“.

Das erste Sinnesorgan des Menschen ist das Ohr. Bereits bis zur 24. Lebenswoche, also knapp nach der Hälfte der Schwangerschaft, hat sich das Gehör im Mutterleib entwickelt. Dabei hört das Baby so gut und so sensibel, dass es nach der Geburt die Stimme der Mutter von den anderen Stimmen deutlich unterscheiden kann. Experimente haben zudem ergeben, dass wenige Tage alte Säuglinge genau jene Geschichten bewusst hören wollen, die ihnen ihre Mamas die letzten sechs Wochen vor der Geburt erzählt haben. So wurden Babys über ein Tonband verschiedene Geschichten vorgespielt. Aber nur bei der Geschichte, die ihre Mütter erzählten, erhöhte sich die Frequenz beim Schnuller-Nuckeln – selbst dann, wenn diese Geschichte von einer anderen Stimme vorgelesen wurde. Lustig ist auch, dass die Babys sehr schnell lernten, mit entsprechendem Nuckeln das Abspielen ihrer Lieblingsgeschichte zu erreichen.

Wichtigste Antenne. Schon dieses Beispiel zeigt: Das Gehör ist unser wichtigstes Kommunikationsorgan, wobei die Ohren Hochleistungsinstrumenten entsprechen. Vergleicht man ihre Leistung mit der einer Waage, könnte man von 1 Milligramm bis 1000 Tonnen hören. Die Bedeutung des Hörens kann deshalb für die Beziehung zwischen Menschen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Und so verwundert es nicht, dass das Ohr das letzte Sinnesorgan ist, das stirbt. Der Philosoph Immanuel Kant hat einmal geschrieben: „Nicht sehen können trennt von den Dingen, nicht hören können trennt von den Menschen“.

Offen sein. Für die eigene Lebensgestaltung kommt es demnach darauf an, das Hören zur Lebenshaltung zu verdichten, wobei das Hören für Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und Zuwendung steht. Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und Zuwendung – das sind zugleich auch jene Haltungen, die maßgebend für ein Leben in den Spuren Jesu sind. Kämen sie nicht vor, würde Wesentliches im Christentum fehlen. Dementsprechend gibt es in der Tauffeier einen eigenen Ritus, der auf das Hören ausgerichtet ist – der  Effata-Ritus.
In ihm heißt es: „Der Herr lasse dich heranwachsen, und wie er mit dem Ruf ‚Effata‘ dem Taubstummen die Ohren und den Mund geöffnet hat, öffne er auch dir Ohren und Mund, dass du sein Wort vernimmst und den Glauben bekennst zum Heil der Menschen und zum Lobe Gottes.“

Achtsam. Mit dem Christsein ist somit ein Lebensstil verbunden, der um den Wert des Hörens und der damit verbundenen Zuwendung weiß: das achtsame Hören auf den Nächsten, das interessierte Hin-Hören auf die Worte unserer Kinder, das aufmerksame Zu-Hören auf die Erfahrungen Anders- und Nicht-Gläubiger, das umsichtige und kluge Hören auf die Zeichen der Zeit sowie das staunende Hören auf die befreiende Botschaft Jesu. Ebenso wichtig ist das Hören auf die eigene innere Stimme und die
eigenen Bedürfnisse. Freilich, dieses Hören fällt uns nicht in den Schoß – es muss immer wieder  neu gelernt und eingeübt werden. Damit wachsen wir in diese hörende Lebenshaltung so hinein, wie es Michael Köhlmeier einmal ausgedrückt hat: „Irgendwann sieht man es im Gesicht, sieht man es am Gang, spürt man es in jeder Geste, hört man es in jedem Wort.“

Jesus hatte sein Ohr bei den Menschen

Es gibt im Christentum viele Bilder, die die Bedeutung Jesu ausdrücken. Eines davon müsste meiner Meinung nach das Ohr sein, weil am Mann aus Nazaret immer wieder dieses offene Ohr für andere sichtbar wird.

Er schenkt der fremden Frau aus Syro-Phönizien ein offenes Ohr – und erfährt dadurch selbst eine Weitung seines Blickes.

Er schenkt den Blinden und Tauben ein Ohr – und bringt so neue Bewegung und Licht in ihr Leben.

Er schenkt denen, die sich um einen „Lahmgelegten“ kümmern, das Ohr – und erleichtert damit nicht nur ihr Leben.

Er schenkt den Kindern ein Ohr, die dadurch als sonst nur geduldete „Randfiguren“ in den Mittelpunkt rücken.

Ja, selbst am Kreuz hat er noch ein offenes Ohr für die Nöte eines Verbrechers – und verschafft dem Mit-Sterbenden so einen ungeahnten Ausblick.

Jesus aber konnte ganz Ohr für die anderen sein, weil er selbst offene Ohren fand.
Stefan Schlager

(aus KirchenBlatt Nr. 21 vom 30. Mai 2010)