Gedanken von Prof. DDr. Peter Eicher zum 2. Adventsonntag.

Du darfst Mensch sein
arglos
            (Rose Ausländer)


Er wollte längst schon aufhören. Denn dass es nicht mehr weitergehen würde, wenn alles nur immer so weiterginge, war ihm klar. Seit Jahren sah er seine Familie nur noch wie durch eine Mattscheibe. Sie berührte ihn kaum noch. Und der Stress mit den Investitionen hatte auch schon lange aufgehört, ihm den Kick zu geben, der ihn nach vorne jagte. „Nur nicht aufhören“ - das war sein Dämon - und „immer noch mehr“ seine Verzweiflung.
Es ist wahr, dass die Gegenwart von dem Paradox beherrscht wird, das Leibniz schon vor dreihundert Jahren exakt formulierte: „Wir fallen zurück, wenn wir nicht voranschreiten.“
Es kommt in der Neuzeit nicht mehr darauf an, einen Zustand des Friedens oder der Gerechtigkeit oder des Glücks zu finden – es kommt darauf an, sich ständig mehr Glück, immer mehr Kaufkraft und noch mehr  Sicherheit zu verschaffen.

Eine Umkehr auf der Bahn der ständigen Steigerung aller Produktivkräfte und aller Lebensmöglichkeiten würde - so meinen Experten - einen Kollaps der Wirtschaft befördern. Und viele fürchten, dass auch die Umkehr zu sozialer Gerechtigkeit im nationalen und im globalen Maßstab die ohnehin prekäre Finanzordnung noch mehr belasten würde. Im privaten Raum ist wohl im Ernst auch keine Umkehr zu einfacheren Lebensverhältnissen ohne Identitätsverlust und ohne spürbare Marginalisie-rung durch die Gesellschaft zu erwarten.

Dennoch sehnt sich der gestresste Zeitgenosse irgendwie  zurück. Er erinnert sich an Zeiten, als es von allen Dingen  weniger, ja fast gar nichts davon gab. Damals gab es noch so etwas wie die fühlbare Zeit und es gab verwunschene Räume für den Übermut und es gab Geruch von Nähe - auch den Geruch von Haustieren, die damals noch im Freien lebten.

Wenn man dahin zurückkehren könnte!
Recht besehen sehnen sich sogar erfahrene Geschäftsleute, auch kluge Lehrende und feinsinnige Seelsorger und Seelsorgerinnen immer öfter zurück zu einfacheren Verhältnissen in der Wirtschaft, in der Schule und in der Kirche.
Dennoch gibt es eine Umkehr zu früheren Verhältnissen nicht mehr. Die Bibel jedenfalls blieb darin realistisch. Die Umkehr, die sie vorschlägt, führt weder zurück, noch progressiv nach vorn. Sie führt anderswohin. Umkehr führt zu sich selbst.

Der Ort, an dem die Stimme hörbar wird, diese seltsame Stimme, die von Innen den Bann löst und die starre Haltung lockert, dieser Ort liegt draußen vor der Stadt, weitab. Die Stimme spricht in der „Wüste“, also da, wo es nichts zu erreichen gibt und nichts zu verlieren. Da kommt der Mensch zu sich selbst. Im wörtlichen Sinn füllen sich die Täler der Dünen und es senken sich die Berge von Sand. Das bedeutet psychisch das Ende der Identitätserstarrung und den Anfang der inneren Bewegung. Und es bedeutet sozial den Zugang zu allen anderen Menschen auf dieser zerklüfteten Erde.

Die Distanz zu den öffentlichen Anforderungen macht es dem Ich leichter, nicht mehr bloß aufzugehen in den Verhältnissen, in denen es lebt. Jetzt kann jedes „Ich“ zu sich selber umkehren. In der guten Einsamkeit dieser Wüste spürt der zu sich gerufene Mensch, wie er in seiner Daseinsnot getragen wird von einer Güte, die jede Vorstellung übersteigt. In dieser Erfahrung fällt die Überforderung ab. Niemand ist sich schuldig, mehr zu sein als er ist. Die Erfahrung der Umkehr zu sich selbst macht die Vorstellung möglich, dass alle Menschen einander sehen, weil sie sich selbst werden: „Alle werden das Heil sehen, das von Gott kommt.“ (Lk 3,6)

Prof. Peter EicherUniv. Prof. DDr. Peter Eicher
lehrt an der Universität Paderborn Katholische Theologie (Systematik), ist therapeutisch in seinem Institut für kommunikative Begleitung tätig und begleitet seine Frau Lisette Eicher im größten Hilfsprojekt Lateinamerikas „Stern der Hoffnung“.

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