Vom 4. bis 7. Juni wählen 375 Millionen EU-Bürger/innen in 27 Ländern die 736 Abgeordneten zum Europäischen Parlament. Das Interview mit Dr. Franz Fischler führte Hans Baumgartner.

Eu und Österreich-FahneIn Österreich ist am 7. Juni Wahltag. Doch darüber, wohin sich Europa entwickeln soll und welchen Aufgaben es sich stellen muss, wird nicht viel geredet. Wir sprachen mit dem langjährigen EU-Kommissar Dr. Franz Fischler über Europa und den Wahlkampf.

Was sind die wichtigsten Politikfelder, die von der EU in den nächsten Jahren bearbeitet werden müssten?
Fischler: Die wichtigsten Bereiche sind diejenigen, wo man national keine Chance hat, gute Lösungen zu finden. Dazu gehören vorrangig: der Kampf gegen den Klimawandel durch eine entschlossene neue Klimapolitik; die Beteiligung am Bau einer neuen Finanzarchitektur, die eine globale sein muss, sowie die weltweite Armutsbekämpfung. Und schließlich die Frage des ganzen Asylwesens und der Zuwanderung, die ja gleichzeitig dazu dienen soll, das Problem der Überalterung in Europa zu reduzieren.

Immer mehr Menschen werden persönlich von den Auswirkungen der Finanzkrise betroffen. Tut die EU genug, um diese schwierige Situation zu bewältigen?
Fischler: Da ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die EU derzeit finanziell relativ wenig tun kann. Denn die Mitgliedsstaaten sind ja nicht bereit, der EU Geld in die Hand zu geben, damit sie z. B. gemeinsam abgestimmte Konjunkturprogramme auflegen könnte. Man darf ja nicht vergessen, dass das gesamte Budget der EU nur ein Vierzigstel von dem ausmacht, was in den 27 Mitgliedsländern an öffentlichen Ausgaben getätigt wird. Was die EU machen kann, ist strukturell einiges verbessern. Dazu gehört, dass man Rahmenbedingungen schafft, damit massiv in neue Technologien investiert wird, besonders in Umwelttechnologien. Das dient der Klimapolitik und schafft neue Jobs. Wo die EU sehr viel tun kann, ist, dass sie die Aktivitäten der Mitgliedsstaaten koordiniert. Geschieht das nicht, dann ist sehr stark die Tendenz vorhanden, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten sich auf Kosten der jeweiligen Nachbarn zu sanieren versuchen. Das würde riesige Ungleichgewichte schaffen und in der Folge zu großen Spannungen führen. Und schließlich kann die EU ihre Strukturprogramme (Verkehr, Telekommunikation, Abwasserentsorgung etc.) für schwächer entwickelte Regionen forcieren. Dafür gibt es in der laufenden Finanzperiode immerhin 300 Milliarden Euro. 

Man hat den Eindruck, dass es manche Initiativen gibt, die dann nicht wirklich greifen, wie etwa die Zinssenkung durch
die Europäische Zentralbank. Ist das so?
Fischler: Das ist wirklich ein großes Problem. Und das ist auch einer der Hauptgründe, warum es so häufig einerseits zu Missverständnissen und andererseits aber auch zu sehr viel Kritik an der EU kommt. Das Problem besteht darin, dass die Mitgliedsstaaten zwar der EU Aufgaben zuordnen und Lösungen fordern, dass sie aber nicht bereit sind, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, noch bereit sind, die Lösungen, die auf EU-Ebene entschieden werden, auch „zu Hause“ entsprechend durchzuführen. So etwa ist die Frage der Weitergabe von niedrigen Zinsen durch die Banken eine Aufgabe der nationalen Bankenaufsicht. Warum geschieht da so wenig?!

Wiederholt hat das EU-Parlament in der Vergangenheit eine bessere Regulierung und Kontrolle der Finanzmärkte gefordert. Warum blieben diese Vorstöße ohne Erfolg?
Fischler: Deswegen, weil die nationalen Finanzminister der Meinung waren, da soll sich EU-Europa nicht einmischen, das reguliert schon der Markt selber.

Gerne wird die ökosoziale Marktwirtschaft als „das“ europäische Modell beschworen. Aber wie sieht das in der Praxis aus?
Fischler: Im Artikel 3 des Lissabon-Vertrages, der leider wegen der Probleme in Irland und Tschechien immer noch nicht angewandt werden kann, steht als Zielsetzung für die Europäische Union genau dieses ökosoziale Modell drinnen. Da ist davon die Rede, dass die EU nachhaltig wirtschaften soll, dass es eine Balance geben soll zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Anliegen. Aber es ist ein weiter Weg von der Programmatik zur Umsetzung in der realen Welt. Da wird sich zeigen, wie sehr da die Mitgliedsländer mitziehen. Und da hätte der Lissabon-Vertrag schon einen großen Vorteil: bei groben Verstößen gegen diese Prinzipen könnte man unter Berufung auf die Ziele der EU beim Europäischen Gerichtshof Klage erheben.

Wäre nicht gerade die aktuelle Krise eine Chance, um eine klare ökosoziale Weichenstellung zu treffen?
Fischler: Das ist ein Punkt, den man gar nicht genug unterstreichen kann. Es hat sich ja gerade angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise sehr klar herausgestellt, wohin das US-amerikanische Modell vom Vorrang der Wirtschaft über alle anderen Lebensbereiche führt. Da wäre das europäische Modell wesentlich besser. Es war übrigens ein Amerikaner, Jeremy Rifkin, der schon vor einigen Jahren ganz klar gesagt hat, das europäische Modell ist das einzige globalisierbare Wirtschaftsmodell. Aber damit es globalisiert werden kann, müssten erst einmal die Europäer daran glauben.

Zur ökosozialen Marktwirtschaft gehören auch die sozialen Grundrechte jedes Menschen. Wie sieht es in der EU damit aus?
Fischler: Auch hier würde der Lissabon-Vertrag einen großen Fortschritt bringen, da die sogenannte Grundrechtecharta dann einklagbar wäre. Bei der Charta handelt es sich um den weltweit umfassendsten Kanon von Grundrechten. Sie beinhaltet u. a. auch eine ganze Reihe von Bestimmungen über soziale Grundrechte, über Gleichbehandlung, über den Schutz von Minderheiten etc.

Sie haben schon auf den Kampf gegen die Armut hingewiesen. Gehört der nicht auch zu einer ökosoziale Marktwirtschaft?
Fischler: Absolut. Und da muss man schon auch sagen, dass die EU-Länder pro Kopf der Bevölkerung einen doppelt so hohen Beitrag für Entwicklungszusammenarbeit leisten als die USA. Dennoch hinken auch die meisten Länder Europas hinter ihren Zusagen (0,7% BNE) nach. An dem Beispiel sieht man leider auch, wie manchmal die Sonntagsreden und das Alltagshandeln auseinanderklaffen. Gerade in Österreich ist es heuer wieder dazu gekommen, dass man die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit sogar gekürzt hat – mit der Ausrede Wirtschaftskrise. In Deutschland ist die Wirtschaftskrise noch problematischer als in Österreich. Dort hat man die Mittel aber um 30 Prozent erhöht, auch als Solidarität gegenüber den armen Ländern, die von der Krise besonders hart getroffen werden. Österreich verletzt mit seinem Vorgehen nicht nur seine Zusagen, sondern auch die ambitionierten Vorgaben der EU.

Man beklagt häufig, Brüssel ist so weit weg. Wird da nicht viel zu wenig informiert?
Fischler: Da ist schon was dran, dass auch die Intensität der Information durch die Abgeordneten und die verschiedenen EU-Organe wesentlich größer sein könnte. Aber das reicht bei weitem nicht aus. In dem Zusammenhang ist es wichtig zu sehen, dass die EU auch emotional weiter weg ist als die eigene Region oder auch das eigene Land. Was es brauchen würde, ist aus meiner Sicht, nicht primär große Informationskampagnen. Woran es eigentlich mangelt, ist, dass die Bürger das Gefühl haben, die EU ist deshalb so weit weg, weil sie keine Ansprechpartner sehen. Was fehlt, ist weniger die Information als der Dialog, also Möglichkeiten, wo die Bürger/innen ihre Fragen und Anliegen deponieren können und auch damit rechnen können, dass sie eine faire Antwort bekommen.

In Wahlkampfreden wird „Brüssel“ als Moloch beschrieben, der alle Macht an sich zieht. Wie schaut das wirklich aus?
Fischler: Da muss man schon genauer hinschauen. Es stimmt, dass 80 Prozent der Gesetze, die für die Wirtschaft relevant sind, in Brüssel beschlossen werden. Aber fast alles, was in den Bereich der Justiz (Zivil- und Strafrecht etc.) fällt, auch wesentliche Teile des Umweltrechtes oder der größte Teil des Sozialrechtes fallen in die nationale Zuständigkeit. Und es soll auch nicht das Kriterium sein, dass möglichst viel in Brüssel beschlossen werden muss. Da würde auch, was kaum bekannt ist, der Lissabon-Vertrag einen Riesenfortschritt bringen. Da gibt es eine Reihe von Artikeln über die Subsidiarität, die sicherstellen, dass in Zukunft jedes EU-Organ, wenn es eine neue Gesetzesinitiative macht, nachweisen muss, dass das unbedingt notwendig ist, weil auf nationaler Ebene eine Lösung mit ähnlicher Qualität nicht möglich ist.

Klaffen da die Ziele und die politische Praxis nicht doch weit auseinander?
Fischler: In der Praxis haben ja viele Staaten eine eigene Auffassung von Subsidiarität, die ungefähr so geht: das was angenehm zum Entscheiden ist, machen wir selber; das Unangenehme sollen die in Brüssel entscheiden.
Warum sollen die Bürger/innen am 7. Juni wählen gehen? In diesem Wahlkampf geht es ja kaum um Europa.
Fischler: Das ist eine große Schwäche unseres bisherigen demokratischen Konzeptes in Bezug auf Europa. Denn in beinahe allen Mitgliedsstaaten dreht sich die Europawahl vor allem darum, was kann man denen in Brüssel „außerreißen“. Solange die ganze Wahlauseinandersetzung auf der Basis der nationalen Parteien beruht, wird man da nicht weiterkommen. Was man eigentlich brauchen würde, wäre, dass man sich schon im Vorfeld von Wahlen innerhalb der wichtigsten Fraktion des Europäischen Parlaments auf einige Eckpfeiler einigt – was sollen die nächsten großen europäischen Projekte sein – und dazu länderübergreifend eine gemeinsame Position bezieht. Dann könnten die Bürger/innen klar auswählen, zwischen dem, was die Konservativen, die Sozialdemokraten etc. mit Europa vorhaben. Die Grünen versuchen diesen Weg zumindest schon. Aber so, wie es jetzt ist, kommt Europa ja kaum zur Sprache.

Was sagen Sie zu Wahlslogans wie „Abendland in Christenhand“?
Fischler: Diese Kampagne ist einfach beschämend. Und sie widerspricht genau dem, was die EU will, nämlich den Dialog der verschiedenen Kulturen und Religionen im Hinblick auf ein friedliches Miteinander. Und ich kann nur hoffen, dass möglichst viele Leute das auch so sehen und sich bei der Wahl entsprechend verhalten. Daher wäre es wünschenswert, dass viele Menschen zur Wahl gehen, denn eine niedrige Wahlbeteiligung hilft immer den Radikalisierern.