Nationalsozialismus im Familiengedächtnis - lautet der thematische Schwerpunkt der Veranstaltungen im Rahmen der Carl-Lampert-Gedenkwoche 2009. Angehörige von Opfern und Tätern/innen kommen ‘vor Ort’ zu Wort und erzählen vom familiären Umgang mit oft belastender Familiengeschichte. Von Matthias Plankensteiner.
Der Autor dieses Beitrages ist der Urenkel des ehemaligen NS-Landeshauptmanns von Vorarlberg, Anton „Toni“ Plankensteiner. Er hat seine Familiengeschichte zum Thema einer psychoanalytischen Diplomarbeit gemacht.
Die Arbeit steht kurz vor ihrem Abschluss. In seinem KirchenBlatt-Beitrag berichtet der Urenkel über die Lasten des Erinnerns und die Erleichterung nach dem Blick in die Untiefen familiärer Wahrheiten.
Mein Urgroßvater väterlicherseits war wohl der populärste Vertreter des Vorarlberger Nationalsozialismus. Bereits 1930 schloss er sich der illegalen NSDAP an. Dass er, Sohn eines Südtiroler Auswanderers, nur acht Jahre später u.a. Vorarlberger Landeshauptmann sein wird, war damals wohl noch nicht absehbar. Kurze Zeit war er - laut seinem Briefkopf - Gauleiter. Hauptkriegsverbrecher wie Seyß-Inquart waren zu Gast. Massenmörder wie der Wiener Gauleiter Bürckel, in dessen Stab er ab 1942 in der Pfalz tätig war, zählten zu seinem Freundeskreis. Ein Foto in Familienbesitz zeigt ihn und vier andere mit Hitler.
Das Argument, dass man nicht mitreden könne, wenn man nicht dabei gewesen sei, überzeugt schnell. Jedoch würde es der Geschichtsschreibung als auch der Rechtssprechung die Existenzberechtigung entziehen. Aber das ist ohnehin nicht die Ebene, auf der man Familie erlebt und wahrnimmt. Das, was ich als Kind und Jugendlicher zu spüren bekommen habe, war das Resultat der Selbstwahrnehmung und Selbstinszenierung der Täter, weitergegeben durch die Nachkommen, verzerrt und verklärt oder gar weitergeführt und verstärkt durch die Wünsche jeder Generation.
Die Zeitzeugen haben den Wunsch nach einer entlastenden Darstellung und haben Angst vor der schlimmsten Phantasie der Kinder. Die eigentlichen Opfer innerhalb der „Täter-Familien“ sind die Kinder, welche mit den Phantasien leben, nicht nachfragen und sich mit den Auslassungen begnügen. Der Spagat wird geschafft, wenn die Dokumentation im Fernsehen nichts mehr mit dem geliebten und geschätzten Vater und Großvater zu tun hat.
Ich schaute da nach, wo das Grauen echt war, da wo noch niemand in der Familie hinsah. Alles in allem fünf Archive. Außerdem wollte ich die Begeisterung meines Großvaters verstehen, der bereits in den 1930er Jahren in München Hitlerjunge war und bei Freunden meines Urgroßvaters lebte. Ich wollte verstehen, was es war, was meinen Großvater den Nazismus lieben ließ. Das Hakenkreuz als Symbol und Dekoration war mir als Kind das Normalste der Welt und für mich lediglich mit der Faszination meines Großvaters und seiner glücklichen Jugend verbunden.
Als Mitglied einer solchen Familie lernt man erst wie selbstverständlich, dann unter Umständen schmerzlich, dass die Selbstwahrnehmung der Täter und deren Familien eine andere ist, als es die Wahrnehmung der Zeitgeschichte, Schule oder Ethik ist. Spätestens seit Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ ¹), wissen wir auch, dass sich gar organisierter Massenmord und ein intaktes Familienleben nicht ausschließen. Innerhalb einer Familie heißen jene Politiker in Uniform, wie mein Urgroßvater einer war, nicht wie oft in der Presse reißerisch und mystifiziert „Hitlers Helfer“ und dergleichen, sondern „Papa“ oder „Opa“. Das macht eine Aufarbeitung schwer. Das macht es sehr schwer. Denn man wird in Liebe zu seinen Vätern geboren.
Als ich als Dreijähriger mit meinem Großvater am Bödele war, meinte ein Bekannter meines Großvaters: „Es ist schon gut, was mit den Juden geschehen ist.“ Ein scherzhaftes, strammes „Heil Hitler“ unter Senioren bekam ich damals noch in einschlägigen Dornbirner Lokalen zu hören. Das alles war aber auch das Dornbirn, in dem ich in den 80ern aufwuchs. Eigentlich normal und glücklich mit Schikursen im Winter und Baden im Sommer, mit einem kinderliebenden Großvater aber auch mit dem idealisierten Urgroßvater. Als ich meinen Zivildienst bei der Lebenshilfe antrat, bekam ich umgehend zu hören, dass man damals meinte, jene „armen Menschen“ zu erlösen, bevor ich überhaupt feststellen konnte, dass es keine Senioren in der Lebenshilfe gab.
Erst seit wenigen Jahren ist bekannt, dass die jüdische Familie Turteltaub, die einen Steinwurf von meinem Elternhaus entfernt wohnte, mit ihren zwei Kindern in Auschwitz den Tod fand. Bereits in der Nacht des Anschlusses schrie ein versammelter Nazimob vor deren Haus: „Henkt die Schwarzen, henkt die Juden!“ Es muss ein „Spaß“, eine „Hetz“ gewesen sein, den man wahrscheinlich durch die geschlossenen Fenster in meinem Elternhaus hörte, sofern man nicht ohnehin daran teilnahm. Vorarlberger Dialekt, gesprochen auf der Selektionsrampe von Auschwitz-Birkenau. Dabei hatten sie noch versucht „Exil-Juden aus Amerika“ zu werden. Auch das ist Vorarlberg. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob mein Unbehagen nicht auf die ungelöste Trauersituation meines Urgroßvaters deutet, dessen größte Last es war, dass er nicht bereuen und erzählen konnte, was er sah oder mit der Tinte seines Füllers veranlasste.
Heute hat sich sowohl mein persönliches Verhältnis zu meinem Vater, als auch der Umgang mit dem Nationalsozialismus entspannt und entwirrt. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich den Dreißigern näherte, mein Vater die Sechziger überschritt. Es ist aber auch möglich, dass es meine Beschäftigung mit dem Thema war, die den Nationalsozialismus in meiner Familie entzauberte. Dem gegenüber stand ein stiller Auftrag, ein Wunsch, mich mit den düsteren überkommenen Widersprüchen auseinander zu setzen, den ich in der oft unerwarteten Kooperation wahrzunehmen glaubte.
Es ist möglich.
Selbst mein Großvater deutete letzte Weihnachten, genau drei Jahre nachdem ich ihn und die ganze Familie über das Schicksal der Familie Turteltaub aufklärte, auf seinen Urenkel und meinte leise und bedauernd: „Was kann so ein Judenbüblein dafür?“. Er hatte sich mit beinahe Neunzig ein wenig der Vergangenheit gestellt. Über das Gesichtspiercing meiner Schwester meinte er einmal: „Uns hat man zum Töten erzogen. Die Jungen machen sich heute Metall ins Gesicht. Besser sie machen sich Metall ins Gesicht.“
Matthias Plankensteiner
Bild rechts oben: Anton (Toni) Plankensteiner (* 16. März 1890 in Bregenz; gest. 30. Oktober 1969 in Dornbirn) im Kreise seiner Familie. Die Aufnahme stammt aus der Zwischenkriegszeit. Er war zur Zeit des Nationalsozialismus 1938 bis 1939 Landeshauptmann von Vorarlberg sowie bis 1942 Kreisleiter in Dornbirn. 1942 bis 1945 war er Kreisleiter in Neustadt an der Weinstraße.
Der Text ist mit Erlaubnis des Autors von Frau MMag. Karin Bitschnau redaktionell bearbeitet und gekürzt worden. Den gesamten Text finden Sie als PDF zu Download (Links/Dateien).