Gedanken von Prof. DDr. Peter Eicher zum Thema: Wie kommt Gott zu den Menschen?

Vertrauen, dieses
schwerste ABC
Hilde Domin

Wie komme ich da heraus?
Der Mann hatte es im Beruf geschafft. Seine Familie war in Ordnung. Auch sportlich war er fit und im Kollegenkreis  war er geschätzt. Dennoch fühlte er sich Tag für Tag weniger frei, weniger lebendig, weniger „da“. In seinen Träumen konnte er sein Auto weder bremsen noch beschleunigen - er wachte immer schweißgebadet auf. „Wissen Sie“, sagte er, „ich stecke in einer Zwangsjacke. Ich muss da heraus, weg von da, einfach heraus.“ Die Familie, der Arbeitsplatz und sein eigener Körper schienen ihn mehr und mehr einzuengen. Ich sah, wie er in seiner „Gefangenschaft“ mit  List und Energie die Gitter ansägte und Stein für Stein die Mauern seines Kerkers lockerte. Er schien mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Da sah ich, dass er sich nicht ins Freie hinaus arbeitete, sondern in die nächste Gefängniszelle.
Ich erschrak, als ich noch etwas anderes sah. Ich sah, dass die Türe seiner Gefängniszelle immer offen stand. Er sah sie nicht und ging nicht hinaus.

War der Aufbau der Mauer zwischen Ost und West etwas Ähnliches? Stand das Tor zur Verständigung nach dem großen Krieg nicht offen? Und führten die Befreiungsversuche beider Seiten nicht in immer neue Formen der Aufrüstung und der Verhaftung in Feindbil-dern? Machen heute die Mauern, mit denen sich ein Volk vor dem Nachbarvolk zu schützen sucht, das eigene Land wieder zum Gefängnis?  Gibt es eine Tür, durch welche Men-schen einander finden könnten, die sich durch die Religion der andern eingeengt oder ausgeschlossen fühlen?

Hilde Domin hat in ihrem Gedicht „Ermutigung“ den Ton angeschlagen, der die „türelosen Mauern der Stadt“ zu öffnen vermag. Es sei das „Vertrauen, dieses schwerste ABC“, das die Tore und die Türen sichtbar mache und sie durchschreiten lasse. Ohne Vertrauen finde niemand Zugang zu denen, von denen er ausgeschlossen wurde. Ohne Vertrauen finde aber auch niemand den Weg zu jenen, denen er selber die Tür verschließt.

Als Jüdin hat Hilde Domin die Tür zurück in die Heimat durchschritten, die sie ausgeschlossen hatte. Ihre Erfahrung war, dass die Türe erst sichtbar wird, wenn jemand aufhört, sich als das Opfer der anderen zu fühlen. Wenn der Ausgeschlossene aufhöre, das Opfer des andern zu sein, könne der andere durch die Tür kommen.

Das lateinische Wort „Advent“ stammt vom Verb ‘advenire’. Das kann einerseits das Hin-Gelangen und Hinaus-Kommen bedeuten, andererseits aber auch das Herein-Kommen oder ein Herbeigebracht-Werden. Beides ist nur möglich, wenn es eine Tür gibt. Die offene Stelle in der Mauer macht es möglich, dass ich das Haus verlassen kann. Die offene Stelle lässt es zu, dass jemand zu mir kommt. Ohne diese Lücke gäbe es keine Begegnung - und kein Geschenk. Das wissen die Kinder, die strahlen, wenn sie ein Türchen des Adventskalenders öffnen.

Wenn jemand befiehlt, man solle sich freuen, ist der Spaß schon vorbei. Wenn aber jemand zur Tür zwischen den Menschen und zwischen den Völkern und zwischen den Religionen wird, dann wird es allen möglich, sich zu freuen. „Ich bin die Tür“, sagt der johanneische Menschensohn. Eine Tür ist eine offene Stelle. Sie schottet die Menschen nicht voreinander ab und schließt niemanden aus. Durch sie kann einer zum andern finden. Durch sie trat Gott in die Welt.

Prof. Peter EicherUniversitätsprofessor DDr. Peter Eicher
lehrt an der Universität Paderborn Katholische Theologie (Systematik), ist therapeutisch in seinem Institut für kommunikative Begleitung in den Walliser Bergen tätig und begleitet seine Frau Lisette Eicher im größten Hilfsprojekt Lateinamerikas für AIDS-kranke Mütter, Kinder und Marginalisierte im absoluten Elend, im „Stern der Hoffnung“.

www.petereicher.de
www.sternderhoffnung.de

Kirchenblatt Nr. 50 vom 13. Dezember 2009