eine weihnachtliche Geschichte

Vor 41 Jahren war es, und ich hatte die ersten Monate im Internat hinter mir. Jeden Mittwoch am Nachmittag bekamen wir Frischluft verordnet, und der ganze Jahrgang, 67 Buben, begab sich auf Wanderschaft, irgendwohin in der Nähe von Linz.
An diesem Mittwoch war ein Geländespiel angesagt – im Wald. Eine knappe Gehstunde reichte damals noch, um von der Großstadt weg so richtig in das Mühlviertel einzutauchen. Unser Präfekt nannte die Regel: Die einen sollten sich verstecken, die anderen
suchen. Und er bezeichnete die Grenzen: Auf der einen Seite bis hinunter zum Bach, auf der anderen bis zum Waldrand und nach vorne zu bis zu den beiden Lichtungen. „Und um vier seid ihr alle wieder da!“ 

WaldIch lief und lief. Ich entschied mich für die Lichtungen, wollte so weit es ging weglaufen, um mich dann möglichst gut zu verstecken. Ich lief und lief. Nur: da war keine Lichtung. Der großgewachsene Präfekt hatte nicht bedacht, dass für einen kleinen Buben, der in der Senke zwischen den beiden Lichtungen lief, eben diese Lichtungen gar nicht zu sehen wären. Die Stimmen hinter mir wurden immer dünner. Das Suchen war längst im Gang.  In einem dichten Bewuchs junger Fichtenbäume verbarg ich mich – hier hätte ich gute Chancen, wohl erst als Letzter entdeckt zu werden. Ich genoss schon vorab das Gefühl, ohne aufgespürt worden zu sein, an den Sammelplatz zurückkehren zu können.

Ganz unten. Ich wartete und wartete – und dachte nach. Zeit hatte ich ja. Der Ärger steckte noch in mir, darüber nämlich, dass ich im vorweihnachtlichen Krippenspiel nur die Rolle eines unbedeutenden Hirten zugeteilt bekommen hatte. In der Volksschule – daheim – da hatte ich es schon zum heiligen Josef gebracht. „Hart ist das Leben und schwer sind die Zeiten, die Menschen sind böse, sie raufen und streiten.“
Auch jetzt, nach einem Jahr, konnte ich meine damalige Rolle noch auswendig. „Wie schön wär das Dasein auf dieser Erden, wenn die Menschen täten vernünftiger werden“, antwortete Maria. Es war Hilde, die wohl einen Kopf größer war als ich. Ich glaube, sie ist – zu Maria passend – später Hebamme geworden. Ich hatte meine Rolle gut gespielt. Aber jetzt sollte ich wieder ganz unten anfangen. 

Hart ist das Leben. Und ich wartete weiter. Wie spät es wohl war? Uhr hatte ich auch keine bei mir. Jedenfalls begann es –  es war ja schon Anfang Dezember – dämmrig zu werden. Da kroch allmählich so etwas wie Angst empor. Suchen die am Ende gar nicht mehr? Und: Was tun, wenn sie mich nicht finden? In der Eile des Versteckens hatte ich auf den Weg kaum geachtet, und ich war wohl eine halbe Stunde hierher unterwegs gewesen. Hart ist das Leben. Zu hart für einen Buben, der mit einem Mal erkennt, dass er, mitten im Wald und nahe einer Großstadt, den Weg zurück nicht mehr weiß. Verstecken allein ist fürchterlich. Man versteckt sich ja doch eigentlich, um dann doch gefunden zu werden – damit jemand erfährt, wie raffiniert das Versteck gewesen ist. Was tun? Laut rufen? Aber wer weiß, wer es hört. Leise bleiben? Nicht auffallen, dass nur kein Falscher dich findet?

Ich muss hinaus. Mehr und mehr breitete die heraufziehende Nacht ihre schwarzen Schwingen über den Wald. Ich muss hinaus! Da nahm ich mir ein Herz, vergaß jede Vorsicht, und stolperte los. Schon die ganze Zeit hatte ich in der Nähe ein Geräusch gehört, wie ich es zu Hause vom Holzhacken her kannte, wenn man dünnes Geäst kleinhackt, um es dann zu Bündeln zu binden. Ich hatte darauf nicht wirklich geachtet, aber jetzt, da auch dieses Geräusch verstummt war,  fiel es mir auf – und es war still, ganz still.

Zwei Gestalten. Dort musste ich hin! Jetzt rannte ich schneller. Da lichtete sich der Wald, sofern überhaupt noch Licht war. Gott sei Dank! Der Waldrand. Die Lichtung. Und drüben auf der anderen Seite: zwei Gestalten. Sie waren eben dabei, die Lichtung zu ver-
lassen. Ein Mann und eine Frau. Allen Mut nahm ich zusammen. „Hallo“, machte ich mit flatterndem Herzen auf mich aufmerksam. Die beiden blieben stehen, wandten sich um, erblickten mich und kamen dann auf mich zu. Vor diesen Leuten würde ich mich nicht fürchten müssen. Sie waren gekleidet wie ich es auch von Daheim kannte, wenn im Wald gearbeitet wurde. Sie ein Kopftuch, er
einen Hut, beide eine blaue Arbeitsschürze umgebunden. „Virfleck“, nannte man das bei uns. Räuber tragen keinen Virfleck. Was sie sagten, weiß ich nicht mehr. Es war nicht viel. Ich stotterte, von Tränen der Erleichterung begleitet, dass ich mich im Wald verlaufen hätte – und wo ich eigentlich hingehöre.

Wieder ein Weg. Die beiden besprachen sich. Die Frau übergab dem Mann ihre Axt, er ging in die eine Richtung weg, wohl dem Bauernhof zu, der nicht weit sein konnte. Die Frau aber nahm mich bei der Hand und führte mich – da war doch tatsächlich wieder ein Weg – der anderen Seite zu. Eine ganze Weile gingen wir dahin, um den Wald und auch um die Wölbung des Hügels herum. Da hatten wir mit einem Mal die Lichter der Stadt vor uns. Noch weiter begleitete mich meine Retterin, bis auch die hell erleuchteten Fenster des Internates auftauchten. Jetzt kannte ich den Weg, und ich versicherte der Frau, dass ich nun heim wüsste. Unter normalen Umständen hätte ich bei solcher Finsternis eine Scheu verspürt, allein diesen Weg zu gehen.
Aber was sollte mir jetzt noch passieren?

Niemandem gefehlt? Draußen war es stockdunkel geworden, als ich den mächtigen Bau betrat. Ich eilte zum Studiersaal, in dem die ganze Klasse zum Abendstudium versammelt war. Hatte ich noch gar niemandem gefehlt? Ich ging hin zu Sr. Salesia, die die Klasse beaufsichtigte, um meine Verspätung zu erklären. Ich weiß noch, dass sie mich – nach Beratung mit unserem Präfekten – freigesprochen hat. Ich sollte keinen Minuspunkt bekommen, weil ich mich glaubhaft nicht aus eigener Schuld verlaufen hätte.

Dass niemand verloren geht. Aber hatte ich wirklich niemandem gefehlt? Diese Frage quälte mich damals erstaunlicherweise nicht lang. Ich dachte allerdings wieder an das Krippenspiel. Den Hirten würde ich jetzt mit Überzeugung spielen. Hirten sind nämlich gut im Suchen – und sie passen auf, dass niemand verloren geht.  
(Matthäus Fellinger)