Die Bilder vom Altwerden, die derzeit in den Köpfen zugegen sind, halten selten ein erstrebenswertes Ziel vor Augen. Die Psychotherapeutin Boglarka Hadinger (Bild oben) stellt ihnen Vorstellungen entgegen, die regelrechte Vorfreude auf die vierte Lebensphase auslösen.

Patricia Begle

Die Politik sieht alte Menschen unter dem Kostenfaktor, für die Wirtschaft sind sie Konsum-Segment mit wachsender Bedeutung. In zwei Extremen wird Zukunft für alte Menschen vorgezeichnet: die ewig Fitte auf der einen Seite und der schwer Demente auf der anderen. Doch in der vierten Lebensphase liegt viel mehr Potential.

Das Zukunfts-Navi
„Von deinen Vorstellungen nimmt die Seele ihre Farbe an.“ Mit diesem Zitat von Marc Aurel erläutert Boglarka Hadinger ihren Ansatz. „Unsere Vorstellungen funktionieren wie die Zieleingabe bei einem Navigationsgerät“, erklärt sie. „Deshalb lohnt es sich, darüber nachzudenken, was für ein alter Mensch man werden will.“

Neue Freiheiten
Alte Menschen sind von vielem befreit: vom Druck, den ein Job mit sich bringt, vom Zwang, sich beweisen zu müssen, von Kämpfen um Beziehungen. Das setzt Kräfte frei. Zudem verfügen alte Menschen über besondere Ressourcen: Lebenserfahrung zum Beispiel, die den Blick für das Wesentliche schärft und Gelassenheit bringt. Vor allem aber haben alte Menschen viel Zeit.
 
Mit dem Leben aussöhnen
Diese Zeit ist eine Chance, „das Leben in den Blick zu nehmen, es zu ordnen und von Giften der Unversöhntheit und der Ungerechtigkeit zu befreien“, erklärt Hadinger. Solche Gifte entstehen durch unterschiedliche Erfahrungen. Das können zerbrochene Beziehungen sein oder ein nicht erfüllter Berufswunsch, das kann der plötzliche Tod eines Menschen sein oder eine tiefe Verletzung. Diese schweren Erfahrungen anzunehmen, ja sich mit ihnen auszusöhnen, braucht wohl eine Portion Mut. Gute Begleitung ist dabei hilfreich.

Die Welt im Blick
Die frei werdenden Kräfte können auch an die „Welt“ verschenkt werden. Durch Engagement im Gemeinwesen oder in der Begleitung von Enkelkindern. Hier kann ein Stück weit zurückgegeben werden, was man selbst empfangen durfte - an Wissen oder Zuwendung, an Unterstützung oder Lebensweisheit. Der Blick auf die Welt kann neue Zusammenhänge erkennen lassen, sodass die Welt als Ganze ins Bewusstsein tritt.
Dem Kontakt mit jungen Menschen kommt aus gesellschaftlicher Sicht große Bedeutung zu. „Wenn ein junger Mensch in seinem Leben einen einzigen sympathischen, gebrechlichen alten Menschen kennenlernt“, so weiß die Therapeutin, „dann lernt er Empathie. Fehlt ihm diese Erfahrung, wird er gnadenlos.“

Vielfalt des Lebens
Mit dem Bild einer Schale, die mit Blumen gefüllt ist, beschreibt die Psychotherapeutin, was unser Leben füllt: Menschen, Fähigkeiten, Erlebnisse, Ideale. Die Blumen verwelken, neue kommen hinzu, manche haben sehr langen Bestand. Das Alter ist eine Phase, in der viele Blumen wegfallen. Angehörige sterben, das Können lässt in vieler Hinsicht nach, Loslassen gehört zum Alltag. Hier gilt es, die Augen offen zu halten für neue Blumen. Sie wachsen überall. „Und wenn dann gar kein Tun mehr möglich ist“, so Hadinger, „bleibt noch das Gebet.“

NACHGEFRAGT

Impulse für das Projekt Alt.Jung.Sein

Evelyn PfannerEvelyn Pfanner
Leiterin von Alt.Jung.Sein, gehörte zu den Teilnehmer/innen des Seminars.

Frau Pfanner, inwiefern findet sich der Ansatz von Frau Hadinger auch in den Angeboten von Alt.Jung.Sein?
Bei unseren Kursen wird den Teilnehmer/innen oft bewusst, was alles möglich ist. Sie entdecken für sich Altbekanntes oder völlig Neues. Dabei geht es nicht um Leistung, sondern um die Fähigkeiten, die in den einzelnen stecken.
Eine Gruppe war zum Beispiel mit dem Wälderbähnle unterwegs - das war ein echtes Highlight. Einmal wurde eine Mappe mit Kochrezepten erstellt. Die Teilnehmer/innen sammelten dafür ihre - meist handgeschriebenen - Spezialrezepte, zum Teil fast schon vergessene, einfache Gerichte. Jetzt kann die Nachwelt darauf zurückgreifen. Diese Generation hat ja ein enormes Wissen und viel Erfahrung, das ist ein unbezahlbarer Wert.

Gibt es in den Kursen auch Impulse zum Versöhnungsprozess, der in der vierten Lebensphase ansteht?
Impulse gibt es, ja. Für die Kursleiterinnen stehen Materialien zu „Lebensfragen“ und „Spiritualität“ zur Verfügung, Biographiearbeit ist ein kleiner Teilbereich. Außerdem können Teilnehmer/innen auf andere Angebote aufmerksam gemacht werden wie z.B. die Trauercafés. Wichtig ist natürlich der Austausch untereinander, das Ins-Gespräch-Kommen über verschiedenste Themen.

Welche Zukunftsthemen sehen Sie für die Senior/innenarbeit?
Einmal ist dies die Pensionseintrittsphase, die vorbereitet und begleitet werden kann. Nach dem Motto: „Wer gut alt ­werden will, muss früh damit ­beginnen.“ Und dann sehe ich in dem Versöhnungsprozess, für den in der letzten Lebensphase Zeit ist, eine große Aufgabe für die gesamte Seelsorge.

(aus dem KirchenBlatt Nr. 25 vom 18. Juni 2015)