Wer in Vorarlberg war wie in die Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt - und welche Lehren hat die Weltgemeinschaft aus der Vergangenheit gezogen? Der Vortragsabend „Massenmord einst - wegschauen heute?“ durchmaß anlässlich des internationalen Holocaust-Gedenktages ein Spannungsfeld, das bis ins eigene Denken und Handeln reicht.

„Ich bin Historiker“, sagte Dr. Werner Bundschuh, „ich schaue auf die Vergangenheit, nicht auf die Gegenwart oder Zukunft. Aber ich frage mich, wie wohl Historiker nach mir das bewerten werden, was heute passiert. Ob sie sich fragen, warum denn keiner was getan hat.“
Ein Sager, der einen ganzen Abend kondensierte, ein Gefühl, vielleicht auch: unsere Zeit. Zum internationalen Holocaust-Gedenktag sprach Bundschuh Montag im Salomon-Sulzer-Saal in Hohenems über NS-Täter mit Vorarlberger Wurzeln, bevor die Wiener Völkerrechtlerin Dr. Astrid Reisinger Coracini die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Ahndung ähnlicher Verbrechen in der Gegenwart erklärte.

Komplex.

Ein ambitioniertes Unternehmen, denn allein der Blick auf die juristische Seite böte Stoff für viele Vorträge mehr: Welche Verbrechen sind beispielsweise durch das Völkerstrafrecht gedeckt (Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Aggression)? Wann ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag zuständig, wann nicht? Warum ist der Vorsatz zum Völkermord bereits ein Straftatbestand - und wie lässt er sich nachweisen oder ahnden?

Leitplanken.

Dass sich die Veranstaltung des Verbands österreichischer gewerkschaftlicher Bildung (VÖGB) in Kooperation mit u. a. dem Jüdischen Museum Hohenems, der Johann-August-Malin-Gesellschaft, erinnern.at und dem Katholische Bildungswerk Vorarlberg weder in solchen juristischen Finessen oder den Ungeheuerlichkeiten der Vergangenheit verlor, lag vor allem an zwei Fragen, die beide Vorträge wie Leitplanken begleiteten: Wo beginnt Verantwortung, und was hat das mit uns zu tun?

Viele kleine Schritte.

Wer da nur auf „den Lusser“, „den Eberl“ und andere NS-Verbrecher aus Vorarlberg schiele, mache es sich zu leicht, meinte Bundschuh. Die eigentliche Verantwortung sei eine gesamtgesellschaftliche. Wie VÖGB-Obfrau und Moderatorin Manuela Auer erinnerte auch er an die Rede, die Autor Michael Köhlmeier im Mai 2018 anlässlich des österreichischen Gedenktags gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im Parlament gehalten hatte: „Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung.“ Heute würden fast täglich öffentlich Positionen vertreten, die vor nicht allzu langer Zeit als unsagbar gegolten hätten, so Bundschuh. Die Grenzen dessen, was die Gesellschaft zu tolerieren bereit sei, verschöben sich so kaum merklich in eine bedenkliche Richtung. Ein historisch erprobter Mechanismus übrigens, der auch an anderen Orten der Welt praktiziert worden sei, beispielsweise im Konflikt in Ruanda, wie Reisinger Coracini ergänzte.

Es ist an uns.

„Das Völkerrecht ist die in Gesetze gegossene Reaktion auf die Vergangenheit“, erklärte die Juristin weiter, jedoch seien internationale Institutionen wie diese einfach noch zu jung, um die hohen Erwartungen zu erfüllen, die man mit ihnen verknüpfe. Eine Einschätzung, die während der anschließenden Diskussion nicht jedem im gut besuchten Sulzer-Saal zu gefallen schien, schließlich zeigt sie einmal mehr, dass alle Präventionsmechanismen, die im Eindruck der Verbrechen des Nationalsozialismus entstanden sind, keine Garantie dafür liefern, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Die Verantwortung dafür, was mit einer Gesellschaft, einem Land, einer Welt passiert, trägt immer auch die und der Einzelne. Nutzen wir sie!

(aus dem KirchenBlatt Nr. 5 vom 31. Jänner 2019)