Ob als Eltern- oder Großelternteil, als Lehrperson oder Busfahrerin, das Verhalten von Kindern löst vielfach Unverständnis aus und bringt Erwachsene an ihre Grenzen. Guter Rat ist da gesucht. Im Rahmen des Tages der Katholischen Elternbildung konnte er gefunden werden.

Patricia Begle

Rund 50 Frauen - und ein Mann - folgen der Einladung zur Tagung „Kinder verstehen - gemeinsam wachsen“ in den Schützengarten in Lustenau. Initiiert und organisiert wird sie von der Elternbildung des Katholischen Bildungswerkes und der Marktgemeinde Lustenau. Als Referierende sind Dörte Westphal, Lienhard Valentin und Herbert Renz-Polster geladen. Während der Ansatz der beiden ersten im Land schon bekannt und sehr geschätzt ist, bringt Renz-Polster einen neuen, unüblichen Zugang mit ein: der Kinderarzt betrachtet die Heranwachsenden aus der Perspektive der Verhaltens- und Evolutionsforschung. Zudem ist der deutsche Wissenschaftler und Autor Vater von vier Kindern - ein Forschungsgebiet wohl von ganz besonderer Intensität.

Steinzeit-Anlagen. „Kinder haben bei ihrer Geburt einiges mit dabei“, erklärt der Mediziner. „Sie haben Strategien mit sich, die Sinn machen und einer jahrtausenden alten Entwicklung entstammen.“ Tatsächlich haben sich 99% der menschlichen Entwicklung in einer Umgebung abgespielt, die, vereinfacht gesprochen, als „Steinzeit“ bezeichnet werden kann. Diesen „Steinzeit-Anlagen“ sind Kinder noch nicht entwachsen. Und wer Kinder verstehen will, muss zurückschauen und die Bedingungen von damals in die Wahrnehmung der Kleinen miteinbeziehen. Dann wird das Verstehen leichter bzw. erst möglich.

Unsichere Zeiten. Auf diesem Hintergrund lösen sich dann so manche Dauer-Erziehungfragen schlichtweg auf. So zum Beispiel die Frage, ob ein Baby allein, im eigenen Bett schlafen soll oder nicht. „In der Steinzeit war das Alleine-Schlafen-Lassen eines Babys überhaupt keine Option. Es wäre dann nämlich von einer Hyäne geraubt worden“, veranschaulicht Renz-Polster humorvoll. „Menschen lebten die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte in sehr unsicheren Verhältnissen. Überleben konnten Kinder nur im Schutz- und Nahbereich ihrer Bezugspersonen.“

Gemüse? Erhellend ist der Evolutions-Blickwinkel auch für die Frage bezüglich des Essverhaltens der Kleinen. 25% der 4-jährigen essen kein Gemüse. Was für manche Eltern fast schon zum Trauma wird, wird in der Evolutionsforschung ganz nüchtern erklärt: In einem bestimmten Entwicklungsalter, mit ca. vier Jahren, bildet sich ein Schutzschild, das Neues mit großer Vorsicht behandelt. Denn in diesem Alter bewegen sich Kinder nicht mehr ständig im Nahbereich ihrer Bezugspersonen. Angesichts zahlreicher Giftpflanzen ist dieses Schutzschild überlebenswichtig. Damit Kinder heute ein neues Gemüse in ihr „Ess-Programm“ aufnehmen, müssen sie es vorher mit Nase und Fingern untersuchen, vorsichtig kosten und lange kauen. Und das ganze 8-12 Mal.

Inneres Entwicklungs-Programm. Renz-Polster benennt vier grundlegende Fähigkeiten, die Kinder in ihrer Entwicklung aufbauen - so man/frau sie lässt:
1. Kinder lernen, mit sich selber klarzukommen, mit ihren Gefühlen umzugehen, sich Ziele zu setzen und diese mit Lust zu verfolgen und zu erreichen.
2. Kinder lernen, mit anderen klarzukommen, die Perspektive der anderen kennenzulernen. Sie lernen, Empathie und Feinfühligkeit zu entwickeln.
3. Kinder lernen innerlich stark zu werden, um auch bei Widerständen weiterzugehen.
4. Kinder lernen, aus Fäden, die schon da sind, Neues zu stricken. Sie schaffen neue Kultur, neue Welten.
Diese Grundfähigkeiten lernen Kinder selbst, sie können nicht beigebracht werden. „Kinder brauchen dazu nur einen feinfühligen Resonanzraum und Verlässlichkeit. Sie brauchen keine speziellen Förderprogramme, sie brauchen funktionierende Beziehungen, in denen sie selbst wirksam sein können“, erklärt Renz-Polster.

Pädagogik? Mit seinem Ansatz wirft Renz-Polster so manche Pädagogik über Bord und befreit von pädagogischen Vorstellungen und Zielen, die dem Entwicklungsprogramm der Kinder vielfach im Wege oder sogar im Widerspruch zu ihnen stehen. Aus diesem Grunde finden sich heute viele Eltern im Zwiespalt - mit sich selbst oder mit ihrer Umgebung. Da ist die innere Stimme, die sagt: „Nimm das Kind in den Arm“ und eine andere die meint: „Verwöhn es nicht!“ Allzu oft wird unerwünschtes Verhalten mit „nicht normal“ oder „Defizit“ etikettiert. Vielfach wird Kindern unterstellt, dass sie einen Machtkampf führen und „den Laden“ übernehmen wollen. Das ist aus Sicht der Evolution unplausibel, denn Steinzeitkinder sind immer auf ihr Familiengefüge angewiesen, sie könnten den „Laden nicht schmeißen“, das wäre also eine völlig falsche Strategie. Die innere Strategie der Kinder aber ist gut, mit ihr hat es die Menschheit immerhin geschafft 100 000 Jahre zu überleben. Welche Pädagogik kann auf diesen Erfolg zurückblicken?

Bücher von Herbert Renz-Polster:

_Menschenkinder. Plädoyer für eine artgerechte Erziehung. Verlag Kösel 2011.
_Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Beltz-Verlag 2013. 
_Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt. Verlag Kösel 2013.

Weitere Bücher zum Thema finden Sie in der Literaturliste.

 

Vorträge Zum Nachhören

Die Vorträge der Tagung "Kinder verstehen - gemeinsam wachsen"
am 13./14.3.2014 in Lustenau stehen als mp3-Download zur Verfügung:

"Kinder verstehen" von Herbert Renz-Polster
"Die Kunst gelassen zu erziehen" von Lienhard Valentin
"Mit Kindern Wachsen" von Lienhard Valentin