Der 2. April ist ein international festgelegter Tag, der zu mehr Verständnis und Bewusstsein gegenüber Menschen mit andersartigen neurologischen Strukturen führen soll. Sie sind aufgrund ihrer besonderen Wahrnehmung eine große Bereicherung.

Aglaia Maria Poscher Mika

So wie Menschen Haare in unterschiedlichen Längen und Formen auf dem Kopf haben, sind auch die Gehirne mancher Personen anders strukturiert. Diese Gegebenheit nennt sich Neurodiversität, und das allgemeine Bewusstsein hat sich dahingehend in den letzten Jahrzehnten beachtlich gesteigert. Auch die Wissenschaft hat sich stark entwickelt und ist von einigen Mythen abgekommen, die sehr zu Lasten der Betroffenen und deren engsten Angehörigen ausgefallen sind. Autismus ist zwar irgendwo im Erbgut veranlagt, doch ein verantwortliches Gen konnte bisher nicht identifiziert werden. Auch das Verhalten der Eltern ist nicht Schuld an einer solchen frühkindlichen Entwicklungsstörung – denn sie ist ja bereits genetisch vorprogrammiert.  Doch die wichtigste Erkenntnis ist wohl, dass Menschen, die auf dem autistischen Spektrum Auffälligkeiten zeigen, nicht krank sind, sondern einfach anders. Sie sind auch nicht emotionslos, vielmehr werden sie ständig von Sinneseindrücken und von (sozialen) Gefühlen überflutet – in einem Ausmaß, das sie dann in den Rückzug drängt. Sie wissen gar nicht mehr, wie und wo sie anknüpfen sollten, um mit ihren Mitmenschen in Verbindung zu treten, so stark sind ihre Empfindungen. Da sie sich zudem in sozialen Konversationen nicht so gut äußern können, wirken sie dann gefühlskalt, abgeschnitten und uninteressiert – welch ein Dilemma für alle Beteiligten! Dabei bräuchten sie zumindest eine Person, die eine Brücke für sie darstellt, sie einlädt - mit wenigen Erklärungen - wieder Teil des Geschehens werden zu können. Denn was für 99% der Menschen, die eben neurotypisch sind, ganz einfach „normal“ ist, ist für das 1% unserer Gesellschaft ein undurchschaubares Konstrukt, voller ungeschriebener Gesetze, die jeder zu kennen scheint – nur sie nicht: Wie geht „Spielen“? Wie geht „Kompromisse Eingehen“? Und wie geht „Flirten“? Hand aufs Herz: Wir durften es alle irgendwie lernen. Doch bei wenigen Menschen scheint hier nichts „vorprogrammiert“ zu sein. So fühlen sie sich oft unter ihren Mitmenschen wie Außerirdische. Zwar können viele von ihnen diese sozialen Spielregeln lernen, doch sie fühlen sich immer etwas unnatürlich an, und werden als sehr anstrengend erlebt.

Zum Glück gibt es inzwischen sehr gute therapeutische Methoden, und der zentrale Ansatzpunkt ist wohl die Entspannung. Man kann nämlich davon ausgehen, dass Neurodiversität mit einem überdurchschnittlichen Maß an Stress einhergeht. Laute Geräusche, grelles Licht - die Kleidung kratzt, und ständig scheint jemand etwas von einem zu erwarten, das man einfach nicht erfüllen kann. Ärger, Unverständnis und Gelächter der anderen machen dann den Alltag oft zur Hölle. Doch wenn einmal das notwendige Entspannungsniveau hergestellt werden kann, sind diese meist hochintelligenten Menschen fähig, beinahe alles zu lernen. Am besten funktioniert dies übrigens in einer vertrauten, reizarmen Umgebung, und innerhalb von regelmäßigen Strukturen. Der größte Segen liegt im scheinbar grauen Alltag – zumindest jede Woche, am besten sogar jeder Tag, soll sich möglichst ähnlich sein. Ferien, Feiertage oder Urlaub – das sind nur äußerst unerwünschte Stressfaktoren, welche die Halt gebenden Strukturen unterbrechen.

Die Mutter eines betroffenen Mädchens schreibt Folgendes:

„Ich selbst bin hochsensibel, meine Tochter ist autistisch. Wir sind für einender ein wahrer Segen, denn einerseits zwingt sie mich durch ihre besonderen Bedürfnisse dazu, einen reizarmen und gut strukturierten Alltag zu leben. Das tut auch mir gut. Als hochsensible Personen bilden wir das fehlende Puzzlestück zwischen „neurotypisch“ und „neurodivers“. Es handelt sich hier um ein Nervensystem, das vieles nicht herausfiltern kann, weil es einfach anders beschaffen ist. Da dies genetisch bedingt ist, ist unsere Konstellation keine Seltenheit. Ich kann die Zustände der Reizüberflutung meiner Tochter sehr gut nachvollziehen, und sie daher vor Situationen abschirmen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit für ihr Empfinden katastrophal enden würden.

Unsere Tochter wurde im Alter von 3 Jahren diagnostiziert, und diese Klarheit war eigentlich eine große Erleichterung. Denn wenn das eigene Kind sich nicht der Norm entsprechend entwickelt, macht man sich als Eltern enorme Schuldgefühle. Erst durch die Diagnose wurde mir klar, wie sehr mich das unbewusst belastet hat. Jetzt steht uns viel Unterstützung zur Verfügung, die den herausfordernden Alltag erträglicher macht. Für meine Tochter wünsche ich mir vor allem, dass sie ein glücklicher Mensch wird. Den Anspruch auf Normalität hat unsere Familie längst hinter sich gelassen. Wir gehen offen mit der Tatsache um, dass unsere Tochter im Alltag viel Unterstützung braucht, dass sie manches viel schneller und anderes eben viel langsamer lernt. Ich wünsche ihr Freundschaften, in denen sie so sein darf wie sie ist. Und ich wünsche mir auch eine Gesellschaft, die solche Menschen als Bereicherung erleben – indem sie sehen, dass im autistischen Spektrum sehr viel Sensibilität, Herzlichkeit, Kreativität, Empathie und Lernfähigkeit zu finden sind. Und ganz ehrlich gesagt: unsere Welt ist laut, schnell und grell – auch für die 99% der Menschen, die angeblich auf „normale“ Weise damit umgehen können.“

Der hochbegabte, stumme Raphael Müller, der mit Autismus und Epilepsie diagnostiziert wurde, schrieb im Alter von 9 Jahren folgendes Gedicht:

Inselhaft leben Autisten,
abgeschieden vom Festland der Gesellschaft,
aber umspült von den Wassermassen göttlicher Liebe.
Allein und doch nicht einsam;
unverstanden, aber doch verstehend.
Undenkbar anders und anders denkend.
Außergewöhnliches wahrnehmend,
als wäre es normal,
und Normales in ungewöhnlicher Weise sehend.
Schweres so leicht und Leichtes so schwer.
Alltag ist eine Herausforderung,
aber Herausforderungen sind alltäglich.
Wenige finden Brücken,
viele keinen Weg,
noch nicht mal einen Steg.
Gibt es nur Trennendes,
oder sehen wir die Gemeinsamkeit des umspülenden Wassers?
Haben nicht alle das gleiche Ziel?
Zählen die Belastungen so viel?
Finden wir einen gemeinsamen Weg,
trotz der Mühe uns an der Bereicherung freuend?
Gott in seiner Größe hat bestimmt keinen Fehler gemacht,
sich vermutlich viel gedacht
und gerade deshalb diese Inseln
Euch zum Geschenk gemacht!

Literaturempfehlungen:

Raphael Müller: Ich fliege mit zerrissenen Flügeln
Lorenz Wagner: Der Junge, der zu viel fühlte
Steve Silberman: Geniale Störung
Graf / Seidl / Jakob: Maxi, beeil dich!