Der Amoklauf von Winnenden erschüttert die Welt. Der Familien- und Kommunikationsberater Dr. Jan Uwe Rogge im Exklusivinterview für www.kath-kirche-vorarlberg.at über psychologische, pädagogische und spirituelle Momente dieser menschlichen Katastrophe. Das Gespräch führte Wolfgang Ölz.

Jan-Uwe RoggeÜber allen Reaktionen bei Menschen und in Medien steht die quälende Frage nach dem „Warum“. Was ist bei diesem Amokläufer schief gelaufen? Ist es auch ein Hilfeschrei? Wer ist hier gefordert?

Ich denke, es gibt mehrere Dinge, die man unterscheiden muss. Da ist zunächst die Frage, was ist hier schief gelaufen, also ja letztendlich die Frage: Kann man so etwas verhindern, ist so etwas auszuschließen? Ich habe das schon vor sieben Jahren beim Amoklauf in Erfurt gesagt: Es wird so etwas immer wieder geben. Man kann solche Gewalttaten, die ja Gott sei Dank singulär sind, nicht wirklich verhindern. Daraus resultiert eine zweite Frage: Dieser Junge, der Tim, war in psychiatrischer Behandlung, und man hat, das ist aber überhaupt keine Schuldzuweisung, gewisse Probleme nicht erkannt. Auch psychologische Beratung und Diagnosen haben ihre Grenzen. Weiters kann man, gerade bei eher stillen, schüchternen Kindern, häufig das Konflikt- und Gefahrenpotential nicht wirklich erkennen, das ist sozusagen ein Fass, das plötzlich überläuft, und dann ist die Katastrophe da. Jetzt darüber nachzudenken, was wäre, wenn er nicht die Waffe vom Vater gehabt hätte, ist müßig. Dann hätte er sie eben woanders her etwas genommen, um seine Tat zu vollziehen.

Sie schreiben in ihren Büchern, dass man Angst konstruktiv bearbeiten soll. Sie haben auch einen Titel lautend „Kleine Helden - Riesenwut“. Wie würden sie diese unfassbare Tat in Beziehung setzen zu ihrer „persönlichen“ Psychologie?

Das Problem ist immer, dass Menschen lernen müssen, ihre Phantasien, auch ihre gewalttätigen Phantasien, die sie in sich haben, zu sublimieren, sie in ungefährliche Bahnen zu lenken. Wir alle haben ja ein Gewaltpotential in uns, das wir  konstruktiv ausdrücken können. Der eine spielt Fußball, der andere macht Judo, der dritte malt oder macht Musik. Wir müssen Kinder von Anfang an dazu bringen, diesen Aggressionen in sich nachzuspüren, sie auszudrücken und auszuleben, sodass sie weder für uns noch für andere eine Gefahr darstellen.

Das ist eine lebenslange Aufgabe, aber das kann in bestimmten Fällen, wie jetzt etwa bei dem Tim schief gehen. Es ist sehr häufig so, dass gerade Kinder, die entmutigt sind, die über sehr wenig Selbstbewusstsein verfügen, abdriften aus der Realität, in mediale Zusammenhänge eintauchen, um dort ihr Selbstbild und ihren Selbstwert herzustellen, was aber nie ein richtiger Selbstwert ist, sondern ein sehr fragiles Gebilde.

Was für Handlungsmöglichkeiten gibt es für die Verantwortungsträger in Elternhaus, Schule und Gesellschaft?

Da muss man gerade zu dieser Schule sagen: Sie haben ja eine ganze Menge gemacht. Sie haben Gewaltprävention gemacht. Sie haben eine sehr konstruktive Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule gehabt. Das muss man feststellen, und trotzdem ist das passiert. Da gibt es ein Restrisiko, und dieses Restrisiko kann man nicht ausschließen. Amokläufe berühren uns deswegen auch so, unabhängig von subjektivem Leid. Das hängt damit zusammen, dass wir eben doch merken, es gibt keine letzte Sicherheit. Es kann immer was passieren. Kurt Tucholsky hat das einmal fast zynisch ausgedrückt: „Das Leben ist wirklich lebensgefährlich“. Das ist es auch, was uns so fassungslos macht, dass trotz  aller Maßnahmen dann doch etwas passieren kann. Das zeigt ein Stück weit auch unsere Ohnmacht und unsere Hilflosigkeit, die wir dann haben, aber das gehört schlichtweg zum Leben so dazu.

Der Ruf nach dem Verbot von Gewaltspielen, Horrorvideos und Waffen für Jugendliche ist in dieser Situation besonders vernehmbar. Wie ist dieser Ruf zu bewerten?

Das sind hilflose Reaktionen, die immer wieder auftauchen. Wenn einer bereit ist, den finalen Akt gegenüber anderen und sich selbst zu machen, wird er immer Wege dazu finden. Wir kommen mit technischen Möglichkeiten nicht weiter. Das ist Ausdruck von Hilflosigkeit oder es ist Populismus. Also wenn einer mit einer Waffe in die Schule will, dann helfen auch Zugangskontrollen wie Detektoren überhaupt nichts. Ich erinnere nur an den 11. September.

Zum Verbot von Computerspielen: Da müsste man bei der Produktion beginnen. Killerspiele sind in der Tat immer wieder problematisch, gerade für die, die in diese Welt der Medien abtauchen. Da ist das Beispiel Tim, aber auch andere. Ich habe ja auch in meinen Büchern einige dieser Fallbeispiele genannt. Immer nach solchen Vorfällen werden technische Lösungen angemahnt, aber nach zwei, drei Wochen sind sie doch mehr oder minder vergessen. Das einzige was hilft, sind pädagogisch-psychologische Maßnahmen, das Zusammenspiel von Elternhaus und Schule, die psychologische Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrer, die so etwas erkennen lernen. Nicht nur eine fachliche Ausbildung ist nötig, sondern auch ein niederschwelliges Beratungsangebot, das Eltern aufsuchen können, wenn sie meinen, da läuft was schief. Das ist das einzige, was wir machen können, und dann bleibt immer noch ein Restrisiko, um es sehr deutlich zu sagen: Wir können keine letzte Sicherheit herstellen. Das ist nicht Resignation, das ist Einsicht in das Menschsein, wie wir mit dieser Unsicherheit umgehen können. Da muss jeder seinen Weg finden. Das kann der Glaube an Gott sein,  das kann das Aufgehobensein in der Religion, in der Spiritualität sein, in der man Trost findet.

Wie würden Sie die Aufgabe der Kirchen in diesem Kontext sehen?

Der Glaube hat in dieser Situation eine wichtige Aufgabe, wie ich es eben angedeutet habe, aber viel grundsätzlicher. Ich halte es für wichtig, dass der Gedanke, in einem Glauben aufgehoben zu sein, Sicherheit geben kann. Ich glaube, das ist das Zentrale. Kirche muss mehr tun, als in einer konkreten Situation dann da zu sein, das ist wichtig und notwendig, aber Kirche muss in einer unsicheren Welt Halt und Geborgenheit vermitteln. Kirche muss für alle da sein, für die Opfer, auch die Eltern des Täters sind Opfer.

Sie sprechen sehr persönlich vom Täter von Winnenden. Haben sie zu diesem „Tim“ als Therapeut schon  eine Beziehung aufgebaut. Was ist hier die angemessene emotionale Situation?

Ich hatte gestern zehn Anfragen für Interviews, und ich habe keine wahrgenommen, weil ich keine Lust habe, mich dazu ständig zu wiederholen. Ich verweise dann immer auf meine Interviews, die ich nach Erfurt gegeben habe. Eine zentrale Geschichte ist für mich das Gleichnis vom Verlorenen Sohn im Lukasevangelium. Dieser Text kann zeigen, dass ein Kind auch dann angenommen werden kann, wenn es Unfassbares gemacht hat. Ich glaube, das ist etwas sehr, sehr Wichtiges. Ich habe ja auch einige Gewalttäter begleitet, die Schreckliches gemacht haben, die getötet haben. Ich halte es für wichtig, das kann man bei Tim ja nicht mehr machen, weil er ja tot ist, Täter, die Schuld auf sich geladen haben, auch zu begleiten, damit sie mit dieser Schuld fertig werden, damit sie Schuld überhaupt erst anerkennen. Dieses „Ich bin schuldig geworden“ ist bei Tätern ungeheuer wichtig, weil sie die Schuld ja immer verdrängen. Sich einzugestehen „Ich bin schuldig geworden“ ist die Voraussetzung, um zu einem Bewusstsein zu kommen für sich selber, um zu Moral zu kommen, um zu einer Auffassung von Mitmenschlichkeit und Mitgefühl zu kommen.

Jüngere Kinder bekommen über die Medien unweigerlich diese Vorgänge an der Albertville-Realschule in Winnenden mit. Wie sollen die Eltern auf ängstliche Reaktionen von Kindern reagieren?

Zunächst ist einmal wichtig, dass man so normal wie möglich reagiert, dass man aber gleichzeitig auch die Ängste dieser Kinder annimmt, dass man nicht versucht, diese Ängste zu bagatellisieren, nach dem Motto „Das kann bei uns nicht passieren“. Was ich immer ganz wichtig finde ist, wenn die Kinder fünf, sechs oder sieben Jahre alt sind, ihnen beispielsweise einen Schutzengel mitzugeben, der sie beschützt. Ich glaube, das kann helfen, den Kindern ein Stück weit auch diese Bestärkung mit auf den Weg zu geben. Man kann sagen: Ich vertraue auf Dich, auf Deine Stärke. Wenn eine Familie den Glauben an Gott hat, dann kann man sagen: Ich bin sicher, dass der Jesus, der Gott, der Schutzengel dich behüten. „Sein Stecken und Stab führen mich“, wie es im Alten Testament im 23. Psalm heißt.

Wie kann den unmittelbar Betroffenen, Klassenkameraden, Eltern geholfen werden?

Der zentrale Gedanke ist, dass das eine Erfahrung ist, die man nicht kurzfristig bearbeiten kann. Wir wissen beispielsweise, dass die Traumatisierungen sehr häufig Monate und Jahre später auftauchen. Es gibt einfach Kinder und Jugendliche, die in der Situation verdrängen, die das Gesehene und Erlebte gar nicht an sich heranlassen. Dieser Schutzmechanismus ist wichtig, und es ist wichtig, dass man den auch zulässt. Jedes Kind reagiert in dieser Situation sehr unterschiedlich. Psychologische Betreuung hat vor allem auch auf diese  Unterschiedlichkeit Rücksicht zu nehmen.

Hat so ein Amoklauf etwas mit dem Klima in der gegenwärtigen Gesellschaft zu tun? Was heißt das, wenn an einem Abend, gemeinsam mit dem Vorfall in Alabama, 35 Tote ins Wohnzimmer geliefert werden?

Nein, das würde ich nicht sagen. Das sind mehr oder weniger Zufälle. Was wir natürlich überhaupt nicht vergessen dürfen, wenn wir über Tote im Fernsehen sprechen, ist, dass beispielsweise im Irak  jeden Tag Menschen sterben, dass Kinder an Hunger sterben. Das heißt, bei aller subjektiven Betroffenheit, wenn das Sterben der Kinder in der Dritten Welt die gleiche mediale Aufmerksamkeit haben würde, wie jetzt diese beiden fürchterlichen Katastrophen, dann würden wir ein viel angemesseneres Verhältnis zum Sterben bekommen.

Wieso werden vor allem junge Männer zu Amokläufern?

Man muss zwei Sachen sehen. Die drei letzten Amokläufer in Deutschland waren in der Tat sehr introvertierte, junge Menschen mit einem hohen Potential an nach innen gerichteter Aggression, die durchaus typisch ist für manche Pubertätsverläufe. Das ist das eine. Bei den Mädchen haben wir sicherlich nicht so sehr die nach außen, sondern viel häufiger die nach innen gerichtete Aggression, die sich dann in Essstörungen, Magersucht, Bulimie oder Fettleibigkeit zeigt.

Abschließend eine medienkritische Frage: Ins Auge sticht dieser neue Boulevard-Stil, der u.a. menschliche Details mit dem Grauen des Todes seltsam verschränkt. Wie sehen sie den reißerischen Umgang der Medien mit diesem tragisch großen Leid?

Ich finde schon, dass sich Journalisten auch eines Tones befleißigen sollten, der Achtung und Respekt vor den Opfern beinhaltet. Dieser populistische, dieser reißerische Stil, der zeigt genau das nicht. Man kann auch Betroffenheit ausdrücken, ohne dass man so nah dran ist. Man kann auch aus einer gewissen Distanz heraus Informationen vermitteln und darstellen, ohne die Würde der Opfer noch einmal medial zu verletzen.