Die Kirchen in Österreich müssen dringend wieder näher zu den Menschen rücken und missionarische Aktivitäten setzen, sonst droht ihnen ein Schrumpfungsprozess von großem Ausmaß. Das sagt der Wiener Pastoraltheologe Prof. Paul Zulehner in einem "Kathpress"-Gespräch. Gemeinsam mit der Pastoraltheologin Prof. Regina Polak zeichnet Zulehner für das Kapitel über das religiöse Leben in der aktuell erschienen Wertestudie 2009 verantwortlich ("Die Österreicherinnen. Wertewandel 1990-2008").

ZulehnerAus der Studie geht hervor, dass sich die in den 1990er Jahren festgestellte Wiederkehr der Religion in Österreich nicht fortgesetzt hat. Säkularisierungs- und Entkirchlichungsprozesse gehen demnach weiter. Nach wie vor bezeichne sich allerdings eine Mehrheit der Österreicher als religiös, wenn auch in einer über "klassische" kirchliche Religiositätsformen hinausgehenden Form.

Aus einem katholisch geprägten Land werde ein religiös plurales Land, das zwar stark christlich geprägt bleibt, in dem sich die traditionellen Kirchenbindungen aber zunehmend auflösen, so Zulehner. Die Menschen würden immer mehr "Fragende, Skeptische, Suchende". Der Pastoraltheologe spricht wörtlich von einer "Verbuntung" der Gesellschaft, die auch den religiösen Bereich betrifft. Das bringe freilich auch mehr Instabilität mit sich und mache ein "friedliches Miteinander" unterschiedlicher Anschauungen und Einstellungen notwendig.

Als große kirchliche Problemfelder nannte Zulehner die Jugend, Frauen und den ländlichen Raum. Von den jungen Österreichern bezeichnen sich nur noch 43 Prozent als religiös, während es 1999 66 Prozent waren. Aus der noch unveröffentlichten Pfarrgemeinderatsstudie 2009 wisse er, so Zulehner, dass die Sorge um die fehlende Jugend zu den brennenden Problemen gehört. Der Pastoraltheologe wies darauf hin, dass die Jugend am ehesten noch über soziale Projekte wie etwa die Aktion "72 Stunden ohne Kompromiss" von Katholischer Jugend und Caritas zu gewinnen sei. Auch dem Religionsunterricht komme eine wichtige Aufgabe zu.

Die Kirche müsse den Jugendlichen auch mehr von Gott predigen und weniger von Moral, so Zulehner. Er wies in diesem Zusammenhang auch auf den gelungenen Besuch von Papst Benedikt XVI. 2005 beim Weltjugendtag in Köln hin. Darüber hinaus brauche es Führungspersonen in der Kirche, die authentisch vermitteln können, dass sich die Kirche der Sorgen, Nöte und Hoffnungen der Jugendlichen annimmt.

Regina PolakDramatisch sei auch der Rückzug der Kirchlichkeit auf dem Land. Zulehner ortet als einen der Gründe dafür den Priestermangel und die deshalb entstehenden ländlichen pastoralen "Megaräume", wodurch die Kirche den Kontakt zu den Menschen zusehends verliere. Wenn am Sonntag die Feier der Eucharistie durch den Priestermangel nicht mehr überall gewährleistet werden kann, müsse man über neue Formen des Priesteramts nachdenken, meint Zulehner. Er erinnerte an einen Vorschlag des heutigen Papstes aus dem Jahr 1970. Der damalige Theologieprofessor Joseph Ratzinger hatte für das Jahr 2000 neben den hauptamtlichen akademisch ausgebildeten ehelosen Priestern auch nebenberufliche ehrenamtliche verheiratete Priester für möglich gehalten.

Große Probleme habe die Kirche auch bei den Frauen, so der Pastoraltheologe weiter. Dass diese - trotz vieler "neuer" Väter - in der Regel für die Weitergabe des Glaubens an ihre Kinder verantwortlich zeichnen, habe die zunehmende Entkirchlichung der Frauen einen umso dramatischeren Effekt. Viele Frauen hätten das Gefühl, "dass die Kultur in der Kirche für eine moderne Frau nicht angemessen ist", und sie erlebten Diskriminierungen beim Zugang zu leitenden Funktionen und Ämtern. Zulehner: "Dieses Grundgefühl, dass man als junge Frau in der Kirche nichts mehr verloren hat, muss überwunden werden." Das sei eine Überlebensfrage für die Kirche.

Einen direkten Zusammenhang weist die Wertestudie zwischen der "Kirchlichkeit der Sonntagskirchgänger" und dem ehrenamtlichen Engagement auf, das in dieser Gruppe signifikant höher liegt als bei anderen gesellschaftlichen Gruppen. Zulehner: "Das gehört zu den Primärstärken der Kirche. Hier entfaltet das Evangelium seine Kraft." Das "Ausbluten" der Kirche würde Österreich hingegen sozial kühler und ärmer machen, warnte der Pastoraltheologe. Ohne die christlichen Kirchen und ihre solidarischen Netzwerke werde das ehrenamtliche Engagement in der Gesellschaft nachlassen. Am deutlichsten werde sich das durch das "Sterben" vieler Orden zeigen. "Wenn diese radikalste Form der Nachfolge Jesu und des Lebens nach dem Evangelium zurückgeht, ist das für ein von den Klöstern geprägtes Land wie Österreich sehr negativ", warnte Zulehner.

Im Rahmen der Werte-Untersuchung, die im Jahr 2008 durchgeführt wurde, bezeichneten sich knapp zwei Drittel (61 Prozent) der Befragten Österreicher als religiöse Menschen, ein Drittel (30 Prozent) bezeichnet sich als nicht religiös. Vier Prozent halten sich für überzeugte Atheisten, fünf Prozent könnten dazu keine genaueren Angaben machen. Bei der letzten Befragung im Jahr 1999 gaben noch 75 Prozent der Menschen an, religiös zu sein, nur 18 Prozent sahen sich als nicht-religiös an. Damit befindet sich laut Polak und Zulehner das "atheisierende Feld" weiterhin im Wachstum. Diesem Feld gehören "unbekümmerte Alltagspragmatiker ohne religiösen Sinnanspruch" ebenso an wie Humanisten oder Menschen, die einen "reflektierten, aggressiven Neoatheismus" vertreten.

Wenn die Kirchen diesem Prozess nicht entgegenwirken und mit ihren Stärkern im spirituellen, ethischen und kulturellen Bereich die Menschen wieder verstärkt erreichen, könne der Anteil der Kirchenmitglieder in 20 Jahren bei nur mehr 30 Prozent liegen, warnt Zulehner.

Rückgänge verzeichnet die Werte-Studie u.a. auch bei den Kirchengängern. Gaben 1990 noch rund 25 Prozent der Befragten an, wöchentlich den Gottesdienst mitzufeiern, sank diese Zahl bei der Befragung im Vorjahr auf 17 Prozent. Ein Drittel gab an, nie in den Gottesdienst zu gehen, 12 Prozent gaben an, zumindest ein mal pro Monat ein Gotteshaus zu besuchen. Gewachsen ist einzig der Kirchgang an Feiertagen (von 17 Prozent 1990 auf 23 Prozent im Jahr 2008).

Einen markanten Rückgang konstatiert die Studie auch im Blick auf die religiöse Erziehung. Gaben 1999 noch rund 80 Prozent der Befragten an, in ihrem Elternhaus religiös erzogen worden zu sein, so waren es im Vorjahr 68 Prozent. Hohe Bedeutung messen die Befragten aber weiterhin den religiösen Ritualen an den Lebensübergängen (Geburt, Heirat, Tod) bei. So verzeichnen im Vergleichszeitraum religiöse Feiern wie Hochzeiten etc. kaum markante Rückgänge.