Schokolade macht glücklich, diese Binsenweisheit gehört zum Allgemeinwissen. Aber zu glauben, dass jeder Seelenschmerz mit Süßem verarztet werden könnte, erweist sich als trügerisch. Und das ist nur ein Aspekt des modernen Kinderlebens, den das neue Stück des walk Tanztheaters aufgreift. Kindsein ist nämlich kein Kinderspiel – schon gar nicht, wenn man nirgends so richtig zu Hause ist.

Mehr zur Konzeption des Projekts gibt es hier.

„Ich habe einen Jahresvorrat an Cola-Lutschern“, sagt Hatice zu Tamara. „Das glaube ich nicht. Niemand hat einen Jahresvorrat an Lutschern“, kontert die. „Ich schon“, schleudert ihr Hatice zurück – und auch, dass sie so lange aufbleiben kann, wie sie will, machen kann, was sie will und im Sommer, und zwar den ganzen Sommer, mit ihrer gesamten Familie zum anderen Teil der Familie in die Türkei fährt. „Aber die Türkei ist doch schön“, meint Tamara. „Was weißt du denn. Warst du schon einmal dort?“, brummt Hatice. So nimmt „Kindsein ist kein Zuckerschlecken“, das neueste Stück der Marke „walk Tanztheater“ im Lustenauer Gutshof „Heidensand“ schön langsam und bedächtig an Fahrt auf und steuert damit mitten hinein in ein allgegenwärtiges und genauso unsichtbares „Problem“: Kinder, zwischen verschiedenen Kulturen, zwischen getrennt lebenden Eltern, zwischen Heimat und Fremde – schlicht und einfach hin und her gerissen.


Eine Kindheit aus dem Koffer

Dabei setzt die Feldkircher Theatermacherin Brigitte Walk mit ihrem aktuellen Projekt dort an, wo sie 2016 mit „On the Road“ aufgehört hatte. Damals standen jene Menschen im Mittelpunkt, die Mitte des vergangenen Jahrhunderts als Gastarbeiter nach Vorarlberg kamen. Zwei Jahre später knüpft „Kindsein ist kein Zuckerschlecken“ daran an und nimmt deren Kinder in den Blick. Aber nicht nur die, sondern auch die ganz und gar „einheimischen“ Nomadenkinder. Ja, die gibt es nämlich auch. Gemeint sind jene Kinder und Jugendlichen, die Wochenende für Wochenende zwischen der väterlichen und der mütterlichen Heimstätte hin und her pendeln. Die Kinder, die mehr aus dem Koffer als in einem zu Hause leben. Und dann sind da natürlich auch noch die Kinder, die seit ein paar Jahren über Flüchtlingsrouten und Schlepperwege nach Europa kommen – mit und ohne Eltern. Sie alle stranden irgendwo auf die eine oder andere Art. Auch in Lustenau gibt es sie. Und das war für die Marktgemeinde Lustenau , das W*ORT Lustenau, die Culture Factor Y und das vorarlberg museum Grund genug, um gemeinsam mit dem walk Tanztheater ein Stück auf die Beine zu stellen, das genauso amüsiert wie auch berührt.


Ein Stück entsteht

Am Anfang aber stand auch hier die Recherche bzw. die Bestandsaufnahme von dem, was heute – Generationen nach der Ankunft der ersten Gastarbeiter – noch nachwirkt. Diesen Part übernahm Faime Alpagu. Zwischen Archiven und Populärkultur wurden so auch Interviews mit damaligen und heutigen „Kofferkindern“, denn so wurden und werden die Kinder zwischen allen Stühlen bis heute genannt, zur Basis, auf der der Lustenauer Autor Amos Postner sein Stück entstehen ließ.

In einem Schreibworkshop mit Jugendlichen entstanden erste Ideen, aus den Ideen wurden konkretere Bilder und daraus schließlich Texte und Szenen.


Menschen von hier und dort - und es klappt

Das wieder nahm dann Brigitte Walk in die Hand und knetete das Ganze gemeinsam mit Schülern und Lehrlingen aus Lustenau, mit Ur-Vorarlbergern und Menschen, die andere Kulturen und andere Sprachen mit sich im Gepäck trugen, einfach einmal durch. Überhaupt setzt Brigitte Walk hier auf die gute Durchmischung. Denn hier machen Jung und Älter, Kinder und Erwachsene, Profis und Laien miteinander Theater. Und siehe da: es klappt bestens.


Zum Beispiel Mehmet

Ganz direkt und unverblümt knallt man da auf die Welt der Kindheit, die doch die schönste im Leben sein sollte. Da ist zum Beispiel das Migrantenkind Mehmet. Seine Eltern sieht er einmal im Jahr, für drei Monate. Er lebt in der Türkei bei seinen Großeltern. Die Eltern sind in Deutschland. Dort hat er auch noch ein jüngere Schwester und einen jüngeren Bruder. Die verstehen sich bestens. Nur für ihn war irgendwie nirgends Platz. Also haut er ab. Die Großeltern suchen nicht nach ihm. Er wird schon wieder kommen. Kommt er auch – nach ein paar Tagen. Er kommt immer wieder zurück. Besonders schlimm sind für ihn die  ersten drei Tage nach der Abreise seiner Eltern. An diesen Tagen weint er. Danach trägt er die alten Kleider seines jüngeren Bruders in Deutschland auf. So lange, bis sie zu müffeln beginnen.

Mehmet will dazu gehören. Er will Teil der Familie sein  und ist es doch nicht. Irgendwann holen ihn seine Eltern nach. Und dann, in Deutschland: Was geschieht? Seinen Geschwistern ist er fremd. Sie lachen den großen Bruder, der nicht Deutsch kann, aus. Er ist ihnen lästig. Was sollen Hatice und Halil auch mit diesem fremden Bruder? Als haut Mehmet wieder ab. Ein paar Tage. Die Mutter sucht ihn nicht. Sie hat schon mit der Großmutter telefoniert und die weiß ja, dass das für Mehmet „normal“ ist. Nur Mehmet fragt nie jemand.

Willst du lieber zu Mama oder zu Papa?

Dann ist da aber auch Lena, die nach der Trennung ihrer Eltern zu ihrem Vater zieht. Ob sie das glücklich macht? Nein, denn ist sie dort, ist sie ja gleichzeitig auch wieder nicht bei ihrer Mutter und ihrem Bruder. Und ist sie bei der Mutter, ist der Vater weg. Einer ist immer alleine. Und so schnieft Lena in die Tüte Eis, die ihr ihr Vater schnellstens in die Hand drückt.

Löst das Lenas Problem oder lernt sie einfach mit der Zeit, ihre Gefühle für sich zu behalten?


Kennt die jemand?

Da ist aber auch das kleine Flüchtlingsmädchen, das weder die fremde Sprache noch die neuen Spiele kennt. „Sie ist mir einfach hinterher gelaufen“, sagt ein Mädchen zu den anderen im Kreis.

Und dann sind da natürlich auch die Eltern, egal, ob von hier oder dort, die ja auch irgendwie in der Luft baumeln und Seelenweh mit Schokolade aufwiegen.

Übrigens, Mehmet, Lena, Hatice, Tamra und die vielen namenlosen Kinder gibt es wirklich. Sie sind Figuren, die aus den Interviews und Recherchen, die für das Stück in Lustenau und in Kizilca in der Türkei geführt wurden, entstanden sind. Und sie stehen für viele.  

 

Abschied von der Kindheit

„Kind sein ist kein Zuckerschlecken“  ist ein unglaublich menschliches Stück. Es zeigt, wie schwer das Erwachsenwerden sein kann, vor allem für die, die permanent neu ankommen müssen. Übrigens zeigen die Akteure des walkt Tanztheaters auch, dass das kein gänzlich neues Phänomen ist, das erst mit der Flüchtlingswelle urplötzlich vom Himmel gefallen ist. Trennungen erleben Kinder immer wieder, sei es die der Eltern, die von Freunden oder auch der Abschied von der Kindheit an sich.

„Kindsein ist kein Zuckerschlecken“ ist nicht das erste Stück, bei dem Brigitte Walk mit ihrem Tanztheater mit Kindern, Jugendlichen – oder eigentlich Menschen aller Altersklassen – mit und ohne Migrationshintergrund zusammenarbeitet. Aber es ist immer wieder aufs Neue spannend zu entdecken, was hier durch das Wechselspiel von Fördern und Fordern alles entstehen kann. Das ist auch eine Form der Integrationsarbeit und die überzeugt auf ganzer Linie.

 

Termine

 „Kindsein ist kein Zuckerschlecken“
Bis 1. Juli, täglich, jeweils 19.30 Uhr
Gutshof „Heidensand“ in Lustenau
Dauer: ca eine Stunde

www.walktanztheater.at

 

Die SchauspielerInnen
Maria Arabzade, Suraya Arabzade, Sarah Bechter, Maria Bernhard, Stefan Bösch, Anna-Lina Dorner, Bayez Gulpadahi, Marina Hämmerle, Imani Israilova, Helga Kräutler, Edna Ljubunic, Sarah Mossbrugger, Sahar Rostami, Lilly Simon, Samuel Tschemernjak, Mehmet Topuzelli, Suad Ünaldi, Hala Zada

Das Projektteam
Brigitte Walk (Inszenierung), Amos Postner (Text), Silvia Salzmann (Choreographie), Petra Künzler Staudinger (Ausstattung), Martin E. Greil (Musik), Faime Alpagu (Recherche), Hacer Göcen (Übersetzung), Nicole Wehinger und Marina Rützler (Organisation)