Was ist nur geschehen? Es geht uns gut. Laut dem aktuellen Global Wealth Report hat es Österreich sogar unter die 20 reichsten Länder der Welt geschafft. Es gab definitiv schlechtere Zeiten. Und dennoch führt man heute "allen Ernstes Diskussionen darüber, ob wir ertrinkende Menschen im Mittelmeer retten sollen", so Monika Mokre von der Österreichichen Akademie der Wissenschaften erst kürzlich bei einem bemerkenswerten Abend im Theater Kosmos in Bregenz.

Das Thema ist sperrig. Es ist auch nicht unbedingt angenehm und ein Stückchen muss man seine Wohlfühlzone schon verlassen, wenn man sich einen Abend lang Gedanken darüber machen will, warum es ist, wie es derzeit eben so mancherorts ist. Dr. Monika Mokre von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften führte nämlich genau das sachlich, aber auch dementsprechend ungeschönt vor. Und plötzlich wurden sie sichtbar, die Regelwerke und Mechanismen im Hintergrund. Dabei verstecken sie sich gar nicht, sie geben sich teilweise sogar zu erkennen - und trotzdem wirken sie weiter.

Prekäres "Übergewicht"

Nun, warum "stören" uns denn beispielsweise "die Armen"? Zunächst, und das betonte Mokre, ist es etwas anderes, ob jemand prekär arbeitet oder prekär lebt und sie verweist dabei auf die US-amerikanische Philosophin Judith Butler, die Prekariat als eine globale Form der Verwundbarkeit definiert, die zudem auch noch unter einer schweren Verteilungsungleichheit leidet. Das heißt, für Menschen prekäre Situationen - also Situationen, in denen sie aufgrund ihrer Lebensumstände sozial abgestiegen sind oder vom sozialen Abstieg bedroht sind - finden sich deutlich häufiger im globalen Süden als im Norden. Aber nicht nur: Denn auch innerhalb einzelner Staaten macht sich dieses prekäre "Übergewicht" immer wieder bemerkbar. 

Die anderen stören

Dazu komme, mit Pierre Bourdieu gesprochen, das kulturelle Kapital - und in gewisser Weise auch ein Elitenbegriff. Kulturelles Kapital ist beispielsweise Objekten, aber auch Institutionen eigen. Ein Gemälde ist ein Beispiel dafür, wie sich kulturelles Kapital in einem Objekt spiegeln kann. "Gleichzeitig führt unser gemeinsames kulturelles Kapital aber auch dazu, ob wir uns zum Beispiel in einem Theater wohl fühlen, oder nicht", so Mokre. In der Diskussion um die Migration allerdings, wird "Kultur" plötzlich als Problem gesehen. Da kommt es also zu Verschiebungen im Koordinatensystem. Abdelmalek Sayad, Assistent Bourdieus, bringt dieses Phänomen auf eine einfache Formel, wenn er schließt, dass Immigration, rückt sie näher, oft als Störung der eigenen, "natürlichen" Ordnung empfunden wird. Passiert das gerade, durfte man sich an dieser Stelle fragen?

Schneller Wechsel von "natürlichen Ordnungen" hin zu einer der ersten Immigrationswellen der nicht allzu fernen Vergangenheit: Als die "Gastarbeiter" kamen, verlief das, so Mokre, noch relativ störungsfrei. Warum? Weil sie kamen, arbeiteten und dann auch wieder gingen. Das wurde akzeptiert und es gab auf beiden Seiten, wie Monika Mokre erklärte, die Erwartungshaltung, dass die gegenwärtige Situation eine vorübergehende sei. Übrigens, und auch das verschwieg Monika Mokre nicht, natürlich hatte auch der ebenso oft gelobte wie auch verschriene "Wohlfahrtsstaat" seinen Preis "und den zahlte damals der globale Süden".

Ich leiste und kann's mir leisten

Auf den Wohlfahrtsstaat folgte die neoliberale Wende und an die Stelle der Maxime, dass jede und jeder für sich mit einem Minimum an Lebensstandards rechnen konnte, trat die Losung vom "lifelong learning", also vom lebenslangen Lernen. Das wäre an sich ja noch kein Schreckensszenario. Allerdings verfestigte sich dieses Bild zum Bild des Unternehmers, der ständig kreativ und dabei glücklich ist. Gepaart mit dem Vorwurf, dass der Wohlfahrtsstaat verschwenderisch mit seinen Mitteln umgegangen sei und Leistung zu wenig honoriert werde, führte das irgendwann zur neoliberalen Zielvorgabe: Ich leiste etwas, ich leiste mir etwas.

"In der Arbeitswelt kann man das gut beobachten. Da gibt es oft Altgediente, die gut im Geschäft sind und dann gibt es da die Jungen, die nachkommen und sich um die paar freien Posten raufen. Und alles im Glauben, dass ein Mehr an Konkurrenz auch ein Mehr an Leistung produziere. Ich kann dazu nur sagen, ich sehe oft, was zuviel Konkurrenz aus Menschen machen kann", erklärt Monika Mokre, wo ein Hebel zum besseren Verständnis gegenwärtiger Entwicklungen liegt. Ein anderer finde sich dort, so fährt sie fort, wo Menschen aus der unteren Mittelschicht verstärkt - auch durch wirtschaftliche Entwicklungen - aus dem öffentlichen Diskurs fielen. Die Textilarbeiter sind so ein Beispiel. Durch technische Weiterentwicklungen, durch Verlagerungen in den Produktionsstandorten, verschwanden langsam auch die Arbeiter/innen.

Am Beispiel der "Gelbwesten"

Ein anderes, aktuelleres Beispiel, findet Mokre in den Gelbwesten-Protesten Frankreichs. "Man darf sich diese ,Gelbwesten' als eine sehr gemischte Gruppe vorstellen. Wichtig ist es auch, dass man sich daran erinnert, warum ihre Proteste begonnen haben: aufgrund der geplanten Einführung einer neuen Mineralölsteuer. In Frankreich ist der Anteil der unteren Mittelschicht an der Gesellschaft relativ hoch. Das sind Menschen, die es schaffen, sich ein Haus in einer der Vorstädte zu bauen und dieses Haus ein Leben lang abbezahlen. Nun muss man zudem wissen, dass es dort, in den Vorstädten und dahinter, so gut wie keinen öffentlichen Verkehr gibt. Das heißt, dass diese Leute tagtäglich mit dem Auto zur Arbeit fahren. Man braucht ein Auto. Umso härter werden sie natürlich von neuen Mineralölsteuern getroffen. Und noch eine interessante Beobachtung: Der anfängliche Protest gegen die geplante Steuer hat sich dann im Laufe der Zeit gegen Präsident Emmanuel Macron selbst gewandt, mit dem Argument, dass er rein auf die Eliten achte", betonte Monika Mokre anhand dieses einfachen und umso eindrücklicheren und verständlichen Beispiels. "Die Frage für mich ist heute, ob wir uns in den vergangenen Jahren schlichtweg an das allgegenwärtige Prekariat gewöhnt haben, entlang der Bewegung weg von ,ein gutes Leben für alle' und hin zu ,nur wer etwas leistet, soll ein gutes Leben führen können'. Von da ist der Schritt zur Diskussion darüber, welches Leben wir retten und welches nicht, nicht weit", spinnt Mokre diesen gedanklichen Faden weiter.

Wer löst das Staatsversagen?

Lege man - diese Entwicklung vor Augen - diese Grundhaltung nun auf die Migrations- und Fluchtbewegungen der Gegenwart um, so verortet Mokre hier oft eine Überforderung von Menschen, die helfen wollen. "Man kann nicht das ganze Staatsversagen über einzelne Menschen oder NGOs abdecken." Die indisch-französische Autorin Shumona Sinha, die als Dolmetscherin an der französischen Migrationsbehörde vor allem mit Bleiberechtsfällen von Geflüchteten zu tun hatte, hat ihre Erfahrungen im Roman "Erschlagt die Armen" literarisch verarbeitet. "Der Roman ist ein echter Literaturtipp", unterstreicht Monika Mokre. Am Beispiel einer Übersetzerin, die ja quasi zwischen den Parteien steht, zeichnet Sinha die steigende Überforderung nach, in die das Versagen aller Sicherheitsnetze einzelne Menschen treibt.

Und wie ist das mit der Solidarität?

"Unsre Herrn, wer sie auch seien, sehen unsre Zwietracht gern, denn solang sie uns entzweien, bleiben sie doch unsre Herrn", schrieb Bertolt Brecht in seinem "Solidaritätslied, das in den Jahren zwischen 1929 und 1931 entstanden ist. Gültig ist es bis heute. "Wir müssen uns in jeder Situation die Frage stellen, mit wem sind wir solidarisch und warum? Eine Gesellschaft strebt für sich dem Zustand der Vollkommenheit entgegen, den sie natürlich nie erreichen kann. Deshalb eignen sich Gruppen, die man ausgliedern kann so gut dafür, sich selbst zu erklären, warum man denn nicht vollkommen ist", bündelt Monika Mokre die einzelnen Fäden. Die Antwort auf die Frage der Solidarität werde immer mehr zur Frage nach dem Durchbrechen der eigenen Wahrnehmungsblase, in der man - auch gefördert durch die neuen Medien - schwebe. Damit verblasst die Antwort und auch das Korrektiv, das eine Gesellschaft doch auch brauche.

Bleibt also die Frage, wie man sich heute positioniert, um eben nicht immer, so Mokre, "im eigenen Saft zu schmoren" und die Frage danach, zu welchem Anteil die "Angst" vor den Armen, den Flüchtenden, den Mittellosen nicht doch menschengemacht ist?

Monika MokreMonika Mokre

wurde 1963 in Graz geboren. Nach dem Studium der Politikwissenschaft und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien und der daran anschließenden Promotion, wechselte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an die Österreichische Akademie der Wissenschaften. Seit 2009 ist sie zudem Mitarbeiterin des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW. Monika Mokre ist u. a. Mitglied der Stipendienkommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, stv. Vorsitzende des Fachbeirats für kulturelle Vielfalt bei der Österreichischen UNESCO-Kommission und Mitglied des Fachbeirats „Kulturpool“ des BMUKK.

Buchcover Erschlagt die ArmenBuchtipp


Shumona Sinha: Erschlagt die Armen. Roman
Nautilus Verlag, Hamburg 2015.

 

Fotocredit Monika Mokre: IKT Stefan Csaky
Fotocredit Artikelbild: Nina Strehl / Max wearing a Love Your Neighbour Cap / Unsplash