Wie wird man glücklich? Wie bleibt man es? Wo findet man "das Glück" überhaupt? Die Fachabteilungen zum Thema "Glück und Co." sind immer jene, die in den Buchhandlungen besonders gut bestückt sind. Dabei wäre es doch so einfach - manchmal. Denn das Glück liegt nicht selten im Lesen selbst. Wie man spätestens seit dem Besuch der Bibliothekentagung in Hittisau weiß.

In Vorarlberg gibt es - so Pi mal Daumen - rund 100 Bibliotheken. Beim Großteil davon sind die Pfarren mit im Spiel. Knapp 70% der öffentlichen Bibliotheken befinden sich in pfarrlicher Trägerschaft bzw. in pfarrlicher Teilträgerschaft. Warum? Das lässt sich aus der Geschichte eigentlich leicht erklären. Früher waren es ganz einfach sehr, sehr oft die Pfarrhäuser, in denen Bücher ihren Platz gefunden haben. Und so sind die heutigen öffentlichen Bibliotheken nicht selten aus Pfarrbibliotheken heraus entstanden. So viel zur Geschichte und jetzt zur Gegenwart der Bibliothekenlandschaft in Vorarlberg.

Ein Plus für die Bibliotheken

Die Gegenwart gab erst kürzlich mit der Jahrestagung der Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die heuer an drei Stationen in Hittisau stattfand, ein deutlich spürbares Lebenszeichen von sich. Veranstaltet vom Vorarlberger Bibliotheksverband in Kooperation mit der Bibliotheken Fachstelle der Katholischen Kirche Vorarlberg, der Landesbüchereistelle und dem Frauenmuseum in Hittisau, galt es zunächst zu berichten, dass Corona deutlich spürbar war. Unglaubliche 113.694 Entlehnungen waren es auf das Jahr verteilt allein bei den Online-Medien. Und nimmt man analog wie digital in den Blick, dann sind wir bei rund 2,6 Millionen Entlehnung in den Vorarlberger Bibliotheken. Eine satte Zahl!

Jetzt kann man hinter diesem Anstieg natürlich mehrere Auslöser vermuten (und auch finden). Die gute Arbeit, die in den Bibliotheken vor Ort geleistet wird, ist einer davon. Oft sind Bibliotheken heute mehr als "nur" Orte, an denen Bücher und Menschen zusammenfinden. Die Bibliothek wird nämlich zunehmend zu einem, der so genannten "dritten Orte", also Orte, die in ihrer Grundfunktion oft die Folie bilden, auf der vor allem eines ermöglicht wird: Kontakt und soziale Interaktion.

Lesen macht glücklich

Ein anderer Grund ist sicher auch die Tatsache, dass das Lesen die Grundlage aller Bildung ist. Auch hier hat Corona für Lese-Aufwind gesorgt. Corona wird aber für die Bibliotheken auch unter einer zweiten Perspektive nicht ganz irrelevant: Nämlich dann, wenn der Griff zum Buch ein Reflex ist, der im Umgang mit Krisensituationen freigesetzt wird. 

Damit ist man beim Tagungsthema angelangt: "Glücksrezept lesen", lautete das - und wer dabei war, der oder die hat sich spätestens am Tag darauf das nächste Buch zur Brust genommen. Sicher ist sicher.

Kann Sisyphos jemanden retten?

Martin Schmid, Psychologe und personenzentrierter Psychotherapeut in der Ausbildung, ging dabei in seinem Vortrag sogar noch einen Schritt weiter, wenn er von "Geschichten als Ressource in schwierigen Zeiten" zu erzählen beginnt. Ja, er erzählte. Davon, dass er gerade bei der Arbeit war, als seine Partnerin anrief. Ihr kleiner Sohn habe sehr, sehr hohes Fieber. Niemand wisse, was der Grund sein könne. Sie müsse jetzt ins Krankenhaus.

Er konnte nicht mit. Es war Lockdown. Nur ein Elternteil, bitte.

Während er nicht dort sein konnte, wo er hätte sein müssen, fielen ihm die Geschichten der griechischen Mythologie ein, die Michael Köhlmeier neu erzählt hatte. Und es war das Hören dieser Geschichten, das ihn da irgendwie durch diese Zeit brachte. Keine Sorge, dem Junior geht es heute wieder gut.

Dann frag doch den Rabbi

Dennoch, Martin Schmid hatte diese Erfahrung der Geschichten in Krisensituationen gemacht. Daran knüpfte er in seinem Vortrag an, indem er auch hier zuerst den Sprung in die Geschichte wagte und feststellte, dass Geschichten in der Beratung auf eine jahrhundertelange Tradition verweisen können. "Die Bibel ist voll von Geschichten und man kennt auch die Erzählungen, in denen Menschen sich in Krisensituationen an einen Rabbi wenden und der ihnen dann mit einer Geschichte antwortet", erzählt da Schmid.  Warum ist das so? Vielleicht, weil Geschichten keine Ratschläge sind, weil dadurch jede und jeder für sich heraushören und herauslesen kann, was er oder sie will. Und vielleicht eben auch, weil eine Geschichte eigentlich immer greifbar und - besonders, wenn es eine Geschichte aus der Kindheit ist - vertraut ist. Das stützt, besonders in Krisensituationen.

Krisensituationen bei Kindern und Jugendlichen seien, so Schmid, Situationen, im Grunde nicht anders als auch bei Erwachsenen. Es sind Situationen, in denen plötzlich alles anders ist und die gewohnten Bewältigungsmuster nicht mehr funktionieren. Der Unterschied zum Erwachsenenalter liegt unter anderem auch darin, dass die Krisenbewältigungsmethoden im Kindheits- und Jugendalter noch gar nicht voll ausgeprägt sind. Kurz gefasst: Ein Kind hat sehr oft noch gar nicht das "Rüstzeug", um mit dem Tod eines Familienmitglieds umgehen zu können. Wie sollte es auch? 

Aushalten, da sein, zuhören, zum Buch greifen

Was hilft dann? "Das Aushalten der Situation, Sicherheit schaffen, indem die Welt zumindest ein bisschen erklärt werden kann und vor allem eines: Beziehung", lautet da Schmids Antwort und was fasst das besser zusammen, als das (Vor)Lesen eines Buches. "Wenn ich einem Kind etwas vorlese, dann schafft das Beziehung. Fragen, die vielleicht im Raum stehen, werden eventuell schon durch die gelesenen Geschichten beantwortet. Das hilft auch den Erwachsenen, die vielleicht auch nicht wissen, wie sie auf die eine oder andere Frage reagieren sollen."

Corona war auch eine Krisensituation. Für viele. Auch hier war es wichtig, übrigens nicht nur für Kinder, sichere Orte zu schaffen und so die durcheinander geratene Welt ein Stück weit begreifbarer zu machen. Kein Wunder also, dass das (Vor)Lesen boomte.

Gibt es auch Grenzen des Lese-Glücks? Natürlich gibt es die. "Man muss einfach auch ehrlich sein. Nicht jede Situation kann man einfach nur durch das Lesen oder Vorlesen ordnen und es eignet sich auch nicht jedes Buch für jede Situation", relativiert Martin Schmid ganz richtigerweise. Aber dennoch, eines bleibt: Lesen schafft Beziehung, Vorlesen noch mehr. Und aus diesem erlesenen Glücksressort schöpfen wir auch noch in Krisensituationen, die weit jenseits der Kindheitsjahre liegen.

Leben und lesen - nur ein Buchstabe macht den Unterschied

Damit schloss sich ein Vortragsthema direkt an das nächste an. "Lesefreude auf Rezept" gab es da bei Reinhard Ehgartner vom Österreichischen Bibliothekswerk. Das Glücksdepot, das man sich in der Kindheit erliest, bildete auch hier das Fundament. Das Lesen wird bei ihm zum Eintauchen in eine Welt, die "stützen kann, in der man eine Utopie, einen Traum leben kann." So kann Lesen auch zur Heimat werden. Von da ist es dann nur noch ein Katzensprung bis zur Bibliotherapie, der Verbindung von Geschichten und Heilung. "Die Vorstellung der Bibliotherapie ist eine alte. Bei den alten Ägyptern bedeutete die Hieroglyphe der ,Bibliothek' übrigens ,Heilstätte der Seele' und auch im Deutschen sind ,leben' und ,lesen' ja nur durch einen Konsonanten getrennt." Lesen kann also im weitesten Sinne "heilen", könnte man diese Herleitung jetzt kurz fassen. Das stimmt in einigen Fällen sicher, in anderen sind die Heilkräfte eben auch beschränkt. 

Welche Geschichte mag der Hund?

Das Projekt "Lesen ist Wau" ist aber eines, das zeigt, was das Lesen alles kann. "Jedes Jahr gibt es einen gewissen Prozentsatz an Kindern, die das Lesen einfach verweigern. Sie könnten es. Sie weigern sich", erzählt Ehgartner. Diese Kinder lässt das Projekt "Lesen ist Wau" in Bibliotheken auf Therapiehunde treffen. Die Kinder werden dann gebeten, dem Hund doch etwas vorzulesen. Selbstverständlich nur, wenn sie Lust dazu hätten. Dann lässt man die Lesefreunde allein. Und siehe da, von Verweigerung im besten Falle plötzlich keine Spur mehr. Warum? Weil da jemand - und sei es "nur" ein Hund - einfach nur zuhört, ohne Rotstift, ohne Erwartungshaltung, ohne Druck.

Heute, in der Bibliothek!

"Bibliotheken sind besondere Orte", betont Reinhard Ehgartner. Und er hat recht damit. "Es hat vielleicht auch mit diesem absichtslosen Tauschen, das in Bibliotheken stattfindet zu tun. Nicht umsonst wird die Bibliothek heute immer stärker zu einem sozialen Ort, an dem gestrickt, gebastelt, Kaffee getrunken, miteinander gesprochen und eben auch gelesen wird."

Glück auf (Lese)Rezept

Und noch ein ganz besonderes Projekt zum Schluss: Silvia Freudenthaler, Leiterin der Bibliotheken Fachstelle der Katholischen Kirche Vorarlberg und damit Ansprechperson für die vielen Pfarrbibliothekar:innen im Land, hat es ursprünglich in Wolfenbüttel kennengelernt, mit nach Vorarlberg gebracht und kurzerhand adaptiert und ausgebaut: Die Lese-Rezepte. 

Die Idee ist folgende: Es gibt kleine Rezept-Blöcke. Auf ihnen "verschreibt" Dr. Mio Maus zum Beispiel eine Gutenachtgeschichte oder ein Lied oder einen Spieleabend oder eben auch einen Besuch in der Bibliothek. Dort wird dem Eltern-Kind-Gespann dann ein Buch empfohlen. Und ein Pixie-Buch über die großen und kleinen Krisen eines Kinderlebens gibt es auch noch dazu.

Das Tolle daran: Das Konzept des Lese-Rezepts kann in jeder Größenordnung mit vielen Partner:innen umgesetzt werden. Und ist so ein Rezeptblöckchen erst mal im Haus, kann auch die junge Generation den Eltern mal einen glücklichmachenden Leseabend "verschreiben". Übrigens, Lesen ist völlig nebenwirkungsfrei. Es macht nur glücklich!