Claudia Villani, Psychotherapeutin und ehrenamtliche Entwicklungs- und Flüchtlingshelferin, engagiert sich seit vielen Jahre in Pakistan in einem Flüchtlingslager nordwestlich von Karatschi. Im Bericht schildert sie ihre Erfahrungen, die sie vor Ort machen musste und muss.

Claudia Villani

Da im Moment vermehrt die politische Meinung geäußert wird, Pakistan könne sich jetzt des afghanischen Flüchtlingsproblems annehmen, fühle ich mich verpflichtet, über ein bereits bestehendes Flüchtlingslager in Pakistan zu berichten um die tatsächlichen Gegebenheiten zu beschreiben.
Ich habe von 2009 bis Jänner 2019 im Rahmen meines Einsatzes für die Lepraorganisation von Dr. Pfau  in einem Flüchtlingslager nordwestlich von Karatschi gearbeitet. Wir schätzen, dass cirka 120.000 Menschen im Camp leben. Insgesamt sollen sich im Moment 3 bis 4 Millionen Flüchtlinge in Pakistan aufhalten.

Aus dem Camp

Es ist brütend heiß. Als wir im Camp ankommen, stehen bzw. sitzen gezählte 423 Menschen vor der Tür unserer improvisierten Ambulanz. Vor allem sind es Frauen unter ihrer meistens blauen Burka (die blauen sind die billigsten und aus Kunststoff). Ich bin für das „feeding program“ (Nahrungsprogramm) zuständig. Viele Mütter sind selbst so unterernährt und am Ende ihrer Kraft, dass sie es nicht mehr schaffen, das Kind ausreichend zu stillen. Unser Versuch, Mütter mit Vitaminen zu versorgen, hat zu Morddrohungen geführt, und wir konnten wochenlang nicht mehr ins Camp fahren. Es wurde uns von religiösen Führern unterstellt, dass wir Frauen mit dieser Medizin Verhütungsmittel verabreichen. Das „feeding program“ für Kinder konnten wir aber umsetzen. Das heißt, wir wiegen die Kinder und schauen, ob sich ihr Gewicht im roten, orangen, gelben oder grünen Bereich befindet. Die meisten von ihnen sind im roten Bereich, also in lebensbedrohlicher Verfassung. Je nach Körpergewicht des Kindes bekommen die Mütter Nahrungspakete zugewiesen. Das klingt einfach. Ist es aber nicht.

Zu späte Hilfe

In der Realität schaut es so aus: Eine Mutter reicht mir ihr 3 Monate altes Kind unter der Burka hervor. Es atmet nur mehr ganz flach. Das kleine Mädchen hat keine Kraft mehr, nicht einmal um zu wimmern - verhungern ist ganz, ganz leise. Ich lege das Kind nicht mehr auf die Waage. Als ich es der Mutter unter die Burka zurück gebe, ist es bereits tot. Sie kommen meistens viel zu spät zu uns. Das Camp ist so groß geworden, dass es viele Stunden dauern kann, zu Fuß zu uns zu kommen. Und wenn das Kind ins „feeding program“ aufgenommen wird, bedeutet es, dass es jede Woche gewogen werden muss, um eine neue Portion Maisgrieß für die nächste Woche zu bekommen. Nur so können wir sicher sein, dass der Grieß auch wirklich an dieses Kind gefüttert wird. Auch das klingt gut durchdacht.

Wo ist die Grenze?

Die Durchführung ist jedoch eine Herausforderung. Allein wenn mitkommende Geschwister mit hungrigen Augen und unterernährt vor uns stehen und nichts bekommen. Wo sollen wir da anfangen? Wo eine Grenze ziehen? Wir haben ja nicht einmal genug Ressourcen für die Neugeborenen bis Einjährigen. Ich bin einmal in der kalten Jahreszeit mit 6.000 Decken ins Camp gefahren. Weil ich mir dachte, 6.000 Decken sind besser als gar keine. Das war ein Fehler. Es ist zu Ausschreitungen gekommen. Es konnte nicht gut gehen mit nur 6.000 Decken für 120.000 Menschen ohne Auswahlkriterien ins Lager zu kommen. Welche Kriterien aber gibt es? Wer braucht in dieser Kälte keine Decke für seine Kinder? Beim feeding program haben wir uns auf die 0 bis Einjährigen geeinigt. Erklären Sie das aber bitte einer Mutter, deren Zweijähriges aus Gründen von Unterernährung keine Kraft mehr zum Stehen hat - die jedoch von uns für dieses Kind keine Nahrung mehr bekommt.

Allein wenn ich es niederschreibe - und ich diese Situationen mit wehem Herzen wieder durchlebe, wünsche ich mir, dass ein europäischer Politiker einen (!) einzigen Tag mit mir ins Afghan Camp kommt.  In einem klimatisierten Konferenzzimmer in Islamabad wird er/sie diese Realität sicher nicht vermittelt bekommen. Wir, das Team um Dr. Pfau mit dem Motto überall dort hin zu gehen, wo sonst niemand mehr hin kommt, haben uns sehr bemüht, andere Organisationen für die Mitarbeit im Camp zu gewinnen - chancenlos. Überall die gleiche Antwort: „Solange auch Taliban im Camp leben, (was zutrifft) können wir euch nicht unterstützen. Wir können uns die Schlagzeile nicht leisten.“ Das bedeutet aber, dass die Menschen in diesen Elendslagern völlig auf sich gestellt sind, und sich zurecht alleine gelassen fühlen. Was den Taliban wieder einen guten Nährboden für ihre Ideologie gibt.

Wenig Auskommen

Die einzige Einnahmensquelle im Lager ist das Sammeln von Mist in dem Moloch Karatschi von 20 Millionen Einwohnern . Daher entstehen diese Lager - aus Verschlägen und improvisierten Zelten - auch vermehrt im Großraum von Karatschi . Mit Glück kann der gesammelte und sortierte Mist zu Geld gemacht werden. Oder die Männer finden am Großmarkt einen illegalen Tagesjob beim Verladen von Gemüse. Das heißt, wenn wir während des Tages im Feld unterwegs sind und Kinder fragen, ob sie heute schon etwas gegessen haben, bekommen wir fast immer die Antwort „Die Väter und Brüder sind noch nicht nach Hause gekommen!“ und dann ist es nicht sicher ob sie etwas zum Essen mitbringen.

Das allergrößte Problem ist jedoch das fehlende Wasser. Es muss gekauft werden. Das Grundwasser so nahe am Meer ist salzig. Unsere Idee, Brunnen zu organisieren, ist damit hinfällig. Es kommen Tankwagen, deren Besitzer mit der Not der Menschen noch Profit machen und das Wasser zu Wucherpreisen verkaufen. Im Durchschnitt kann sich eine Familie von 10 Mitgliedern einen 20 Liter Wasser Kanister am Tag leisten. Das muss für Trinken, Kochen, Wäsche waschen und Hygiene, für alle, reichen. Die Qualität des Wassers ist minderwertig und oft verschmutzt. Fast alle medizinischen Probleme, allen voran Infektionskrankheiten, aber auch Dehydration, lassen sich auf das Wasserproblem zurück führen.

Mit diesen konkreten Erfahrungen, wie sich das tatsächliche Leben für geflüchtete Menschen in einem Lager in Pakistan abspielt, und Pakistan selbst größte Probleme hat die eigene Bevölkerung zu ernähren, erlebe ich europäische Vorschläge, Menschen in diesem Land unterbringen zu wollen, als realitätsfern, ja als zynisch und menschenverachtend. Es ist Scheinmoral, das Problem einem Land zuschieben zu wollen, dessen Bevölkerung unter viel schlechteren Lebensbedingungen leben muss als wir in Europa. Ich kann nur meine Einladung wiederholen, einen Tag mit mir im Afghan Camp zu verbringen. Wahrscheinlich genügen aber auch schon zwei Stunden um die Realität zu erfassen. Wenn die Herzen dafür offen sind.

Claudia Villani

Claudia Villani
studierte Religionspädagogik, Sozialarbeit und Psychotherapie mit Schwerpunkt Trauma und Sterbebegleitung. Seit 2003 arbeitet sie im Projekt Dr. Ruth Pfau (MALC) in Karatschi mit. Seit 2019 ist sie für das feeding program zuständig.

Claudia Villani ist erreichbar unter folgender Mailadresse: