Das Coronavirus legt derzeit das öffentliche Leben lahm und macht damit natürlich auch den Kulturschaffenden einen ordentlichen Strich durch die Rechnung. So wie der Regisseurin Barbara Herold und der Schauspielerin Maria Fliri, die dieser Tage die Premiere ihres neuen Stücks im Alten Hallenband in Feldkirch geplant hatten. Die ist nun verschoben. Aber das Thema bleibt. Es geht ums "Erben" - und da erbt man ja bekanntlich "nicht nur Böden".

"Erben" ist zeitlos. Was hat es für Sie gerade jetzt zum Thema gemacht?
Barbara Herold: Es gab zwei auslösende Momente, das Thema zu wählen. Zum einen ist es die aktuelle Erbschaftswelle in den Industrieländern. Absurd hohe Summen werden seit mehreren Jahren vererbt. In Österreich sind es etwa 20 Milliarden pro Jahr, in Deutschland bis zu 400 Milliarden, die sich auf immer weniger Menschen kumulieren und dazu beitragen, dass die Vermögensungleichheit weiterhin massiv zunimmt. Da es in Österreich keine Erbschaftssteuer mehr gibt und in der BRD die Einnahmen aus der Erbschaftssteuer wegen hoher Freibeträge minimal sind, stellt sich für uns die Frage, warum nicht steuernd eingegriffen wird, zugunsten einer größeren Chancengerechtigkeit. Ein weiterer Impuls war die Tatsache, dass wir uns als Theatercompagnie häufig den Anliegen einer Minderheit gewidmet haben, um zu sensibilisieren und aufzuklären. Diesmal handelt es sich rein zahlenmäßig zwar auch um eine Minderheit, die aber kraft ihres Reichtums sehr mächtig ist. Dieser Widerspruch hat uns gereizt, auf paradoxe Weise für mehr Solidarität und Verantwortung zu werben.


Wie hat sich dabei die Recherchearbeit zu diesem neuen Projekt gestaltet?
Maria Fliri: Sie hat wie bei all unseren Projekten einen langen Zeitraum eingenommen, und begann circa eineinhalb Jahre vor dem tatsächlichen Probenbeginn. Zunächst hat Barbara Herold mehrere Interviews mit Menschen geführt, die geerbt haben, sich diesem Privileg durchaus bewusst sind und bereit waren, darüber zu sprechen. Das Material wird dann verdichtet und den InterviewpartnerInnen auch vorgelegt. Da es ein sehr umfassendes Angebot an Literatur zu diesem Thema gibt, mussten wir da natürlich eine Auswahl treffen. Ein sehr spannendes und für uns hilfreiches Buch war z.B. „Wir erben“ von der Journalistin Julia Friedrichs, die sehr intensiv über die Erbschaftswelle in Deutschland recherchiert hat. Zudem gibt es unzählige Berichte und Dokumentationen, und aus all diesem Material gilt es zu filtern, was dann für die Bühne spannend und umsetzbar sein könnte.
Das „fertige“ Stück zu Probenbeginn ist dann erstmal eine Arbeitsgrundlage, aber auch da kann in der gemeinsamen Probenarbeit noch umgestellt, gekürzt oder ergänzt werden. 

Man erbt nicht nur Böden, sagt man in Vorarlberg. Sind wir also viel mehr ErbInnen einer großen Geschichte, einer großen, gemeinsamen Erzählung? Und sind wir dieser Geschichte „verpflichtet“?

Maria Fliri: Man vererbt ja nicht nur materielle Dinge, sondern auch Wissen, Erfahrungen – eben auch Geschichte. Unweigerlich übertragen sich diese immateriellen Werte auch auf die nächste Generation, und sich dessen bewusst zu sein, zu reflektieren, was ich weitergeben möchte, wäre wohl wünschenswert. Immaterielles Kulturerbe geht ins kollektive Bewusstsein über. Nicht umsonst führt die UNESCO eine Liste des Weltkulturerbes, damit Erinnerung und Wertschätzung erhalten bleiben. Und anders als bei materiellen Dingen wird das geteilte Wissen oder imaginäre Gut ja nicht weniger, sondern kann sich vervielfachen.


„Erben“ im biblischen Sinn hat sehr oft mit Verheißung, mit Versprochenem, mit Erhofftem zu tun. Warum ist die Schwester dieses Erhofften oft die Enttäuschung? Schraubt man die eigenen Erwartungen zu hoch, ruft das die Gier auf den Plan?
Barbara Herold: Es ist tatsächlich verblüffend, dass ausgerechnet ein ‚Geschenk‘ in Familien so häufig Schmerz und jahrelange Konflikte hervorruft. Jeder fünfte Erbenstreit landet vor Gericht. Mit großen Emotionen ist Erben verbunden, weil es mit  Sterben zu tun hat. Eine Person muss gehen, damit eine andere etwas bekommen kann. Das heißt, wenn der Erbfall eintritt, befinden sich alle in einer sensiblen Situation, in der Verwundungen schneller greifen. Und die größten Kränkungen finden statt, wenn man sich ungerecht behandelt fühlt. Die Grundlage ist meistens schon zu Lebzeiten in den Familien angelegt, oft sogar schon in der Kindheit. Die Hinterlassenschaft ist daher für viele gleichbedeutend mit der letzten und endgültigen Verteilung der Liebe, die nun in materieller Form sichtbar wird. Wie oft hört man bei Erbschaftsstreitigkeiten den Satz: ‚Es geht mir nicht ums Geld, es geht ums Prinzip.‘ Die Erwartung der Kinder, selbstverständlich gleichberechtigt behandelt zu werden, ist vielleicht auch zu hinterfragen. Das Erbrecht in deutschsprachigen Ländern hat sich fast unangetastet aus dem 19. Jahrhundert in die Gegenwart gerettet und bevorzugt die Ehe und die „blutsverwandtschaftliche“ Sippe. Es gibt Positionen, die hinterfragen, ob es noch zeitgemäß ist, dass nur die Familie das Erbrecht bestimmt.

Ist Erben in dem Sinn eine Gabe, weil ja eine/r gibt und ein/e andere/r bekommt?
Maria Fliri: Eine Gabe, die aber nicht jedem gegeben ist. Denn, nur weil eine Person die Möglichkeit zu geben hat, liegt es immer noch in ihrer Hand, sich dieser Gabe verpflichtet zu fühlen – oder eben nicht. Im Zuge der Arbeit kamen wir nicht umhin, uns auch mit der Legende des Hl. Martin zu beschäftigen, mit dessen Geschichte man Kindern versucht den Begriff des „Teilens“ zu vermitteln. Spannend war es, die verschiedenen Erinnerungen an Laternenfeste, Lieder und Umzüge auszutauschen, und vor allem zu reflektieren, was man als Kind damit assoziiert hat. In unseren Recherchen sind wir auch auf viele spannende moderne Biographien gestoßen, die mittels Philanthropie mit dieser Gabe umzugehen wissen und ihre Verantwortung
wahrnehmen, sozusagen ihren „Mantel teilen“. Dabei ist das „Erbe“ aber oft auch mit einer Aufgabe verknüpft - z.B. soziale Verantwortung.

Verpflichtet „Erbe“ also? Soll es das?
Barbara Herold: Ich denke schon, dass Erben eine Verpflichtung bedeutet. Denn es ist Zufall und Glück, in die ‚richtige‘ Familie hineingeboren worden zu sein. Erben ist leistungsloses Einkommen und sich die Frage nach der Verantwortung zu stellen, finde ich wichtig. Diese Selbstverpflichtung müsste gar nicht sein, wenn der demokratische Staat regulierend eingreifen würde. Solange Arbeit besteuert wird, muss eigentlich Erben auch besteuert werden. Aber natürlich hört man haufenweise Gegenargumente, die im Stück auch thematisiert werden. Schwierig kann es sein, wenn von der erblassenden Person per ‚letztem Willen‘ Bedingungen an die Erbschaft geknüpft sind, um sich ‚Unsterblichkeit‘ zu sichern. Bei patriarchal geführten großen Familienunternehmen haben viele Nachkommen diesem Druck nicht standgehalten; die Geschichte der Familie Rockefeller ist das beste Beispiel dafür.

Und noch etwas "Biblisches". Wenn das Geerbte eine Gabe ist, die man empfängt, ist man dann nicht beauftragt, diese Gabe auch zu nutzen, etwas draus zu machen - für sich und/oder für andere?
Barbara Herold: Wer das Erbe als Geschenk erlebt und nicht als genealogische Selbstverständlichkeit, wird Dankbarkeit empfinden. Und diese kann – oder sollte - dazu anregen, einen Ausgleich für das erfahrene Glück zu schaffen. Diese Perspektive aus der Dankbarkeit heraus kann Gier und Egoismus mindern; und sie kann Anreiz sein, ganz individuell das Richtige aus der Gabe zu machen.

Erben führt ja gerade heute dazu, dass sich die Finanzkraft in immer weniger, exklusiven Händen konzentriert. Wird das Erben damit zu einer Frage von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit? Zu einer gesellschaftlichen Aufgabe? 
Barbara Herold: Das ist unser Hauptansatz. Die vielzitierte Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf und die Erbschaftswelle hat ihren Anteil daran. Die eklatante Ungleichheit der Verteilung gefährdet die Stabilität einer Gesellschaft. Wie lange kann das noch gut gehen, wenn die große Mehrheit keine Chance mehr hat, aufzusteigen, sich aus eigener Kraft keine Eigentumswohnung erarbeiten kann, weil die Immobilienpreise durch die Decke gehen und man eben keinen ‚Boden‘ erbt. Wir sind überzeugt, dass von einer gerechteren Gesellschaft alle profitieren, auch diejenigen, die vermögend sind. Es ist höchste Zeit, dass sich etwas ändert. Es wäre schön, wenn die aktuelle Krise hier zu einer Wende beitragen könnte.

"Charity" boomte in den vergangenen Jahren. Wer etwas auf sich hält, der musste sich quasi engagieren. Ist dieser Trend, neben allen positiven Effekten, auch manchmal der Versuch den eigenen, ererbten Reichtum zu legitimieren? Das moralische Feigenblatt?
Barbara Herold: Charity, Spendenbereitschaft, der Trend zu Testamentsspenden und ein zu beobachtender Stiftungsboom sind positiv zu bewerten, keine Frage. Das bedeutet aber auch, dass Geld zur Verfügung steht und dass es Menschen gibt, die sich ihrer Privilegien bewusst sind, mit der Bereitschaft, zu teilen. Und wieder stelle ich die Frage, warum es keine demokratischen Instrumente gibt, diese Bereitschaft zu nutzen. Es gibt hervorragende Ideen, wie ein Grunderbe für alle oder generell das bedingungslose Grundeinkommen. Ererbtes Vermögen einer sinnvollen Verwendung zuzuführen, die der Allgemeinheit nützt, hat häufig mit dem Wunsch nach Legitimation zu tun. Mehrere ErbInnen, mit denen wir gesprochen haben, bemühen sich, ihre ganz individuelle Form der ‚Erbsünde‘ zu tilgen. Das kann Barmherzigkeit sein oder das Bekenntnis zur Maxime ‚Eigentum verpflichtet‘.

Nun macht Corona der geplanten Premiere ja einen Strich durch die Rechnung. Wann darf man, vom jetzigen Stand aus gesehen, mit einer Wiederaufnahme des Projekts rechnen?
Maria Fliri: Wie in allen Bereichen von Kunst und Kultur herrscht momentan große Ungewissheit, wie es weitergehen wird, und vor allem wann. Nach der langen Vorbereitungsphase war es ein sehr frustrierender Moment den Probenprozess zu unterbrechen und die Premiere auf unbestimmte Zeit verschieben zu müssen. Wir hängen sozusagen in der Warteschleife und hoffen, baldmöglichst weiterplanen zu können. Auf die Bühne bringen werden wir aber Kind.Erbe.Reich auf jeden Fall – wann und wo auch immer.

 

Buchtipp

Julia Friedrichs BuchJulia Friedrichs: „Wir erben. Was Geld mit Menschen macht“. 318 Seiten. Berlin Verlag 2015