Sozialarbeiterin Amanda Ruf über die Körperwahrnehmung von jungen Frauen und Männern.

Doris Bauer-Böckle

Gibt es Unterschiede, in der Körperwahrnehmung zwischen „weiblich“ und „männlich“?
Ruf: Ja, ich meine, die gibt es. Das Körperbewusstsein von Jungs nimmt zu. Männlich ist, wer Muskeln und einen Waschbrettbauch hat. Perfekt ist, wer Muskelpakete hat. In den jeweils unterschiedlichen Gruppen, in denen sich die Jungs bewegen, gelten wiederum eigene Ideale. Früher wurde „Muskelpaket“ und oben ohne vielfach mit „Bauarbeiter“ assoziiert. Diese Zuschreibung gilt heute nicht mehr.
Auffallend ist, dass Essstörungen bei männlichen Jugendlichen zunehmen.
Mädchen versuchen immer mehr, einem Schema gerecht zu werden – sie richten sich nach einem Bild aus. Perfektes Styling, Outfi bis hin zur Gangart werden kopiert, um einem Gesamtkunstwerk aus der Schönheitsschublade zu entsprechen.  

Was tun jene, die nicht entsprechen können?
Ruf: Wenn genügend Selbstbewusstsein vorhanden ist, verkaufen sie den Makel als Besonderheit. Andere ignorieren diesen, machen ihn unsichtbar, blenden die Tatsache aus. Dies basiert oft auf Grundlage mangelnder Eigenreflexion oder auf dem Unvermögen, Zusammenhänge zu erfassen. Wobei dieser „Mangel“ eigentlich nicht den Jugendlichen selbst zuzuschreiben ist. Wir als Gesellschaft wären dafür verantwortlich, sie zu all dem zu befähigen und Chancen zu eröffnen. Ein Beispiel: Wenn ich mit Jugendlichen über gesunde Ernährung spreche und anschließend mit ihnen Essen gehe. Da passiert es dann manchmal, dass genau jene mit Übergewicht (adipöse Jugendliche) zur Leberkäsesemmel greifen. Die Frage „Was hat das, worüber ich gerade nachgedacht habe mit mir zu tun?“  wird nicht gestellt.
Um Idealmaße zu erreichen, kann die Folge im schlimmsten Fall das Hineingleiten in Krankheiten z.B. Essstörungen sein.

Was oder wer begünstigt, wie wir uns wahrnehmen?
Ruf: Unsere offene Gesellschaft mit den scheinbar vielen  Möglichkeiten macht es schwierig, sich zurecht zu finden. Gleichzeitig machen vor allem Jugendliche mit Migrationsbiographien die Erfahrung, dass viele Wege für sie verschlossen sind und bleiben. Die Folge ist/kann Rückzug in  die eigene  überschaubare Community sein. Die Suche nach Gleichem – um Überforderung und Ohnmachtserfahrungen zu vermeiden. Anderssein wird ausgeblendet. So suchen die Jugendlichen nach gleichem Umfeld, Handeln und Denken. Denn da stellen sich keine Fragen mehr, sie gehören da einfach dazu. Und das Eigene in Abgrenzung zum Anderen, das Bild nach außen, wird wichtiger. Dabei wird unsichtbar, dass in der eigenen Gruppe die anderen eigentlich auch ganz schön anders sind als sie selbst, wenn sie näher hinschauten.
Über die Vermittlung von doppelten Botschaften tun die Medien ihres dazu. Kürzlich sollte auf einer Plattform mit einer perfekt gestylten Heidi Klum - und einem ebenso perfekt retuschierten Foto  - übermittelt werden, dass innere Werte heute viel wichtiger sind als das bloße schnöde Äußere. Da kann ich nur sagen: „Finde den Fehler!“.

Was sind schützende Faktoren, um der „Gleichmacherei“ zu entkommen?
Ruf: Stärkung des „anders seins oder eher sich selbst sein zu dürfen“ auch im Wissen, dass das selbst nie ein Zustand sein kann.  Aktiv in Beziehung gehen und bleiben. Offenheit für die Bedürfnisse der Kinder. Nachfragen, was hinter einem Thema, einem Wunsch oder einer Reaktion von Jugendlichen steht. Reibungsflächen bieten, um in Auseinandersetzung und Abgrenzung gehen zu können. Eigene Meinungen zurücknehmen, die des Gegenübers gelten lassen. Ermutigung, diese zu äußern. Hindernisse eigenständig bewältigen lernen. Erfahrungen sammeln lassen. Und eine wertschätzende Haltung einnehmen, mit einem wirklich offenen Zuhören. Ganz wichtig sind auch Anerkennung und Lob – liebevolle Beziehungen, auf die Jugendliche vertrauen können, auch wenn mal Mist passiert. Denn letztendlich sind wir alle dafür verantwortlich, Jugendliche zu einem eigenständigen und verantwortlichen Leben zu befähigen. Und da braucht es auch ein kritisches Hinschauen von uns als Erwachsene auf uns selbst. Welche Scheuklappen habe ich, in welchen Schubladen denken ich, welche Grundannahmen lege ich meinem Weltbilde zugrunde? Welche Werte vertrete ich? Und was schließe ich aus? Also eigentlich geht’s um die Fähigkeit zur Selbstreflexion bei uns Erwachsenen.
Auch Eltern und Erwachsene müssen in der Lage sein, Eigenreflexion zu betreiben. Und ich meine, da gibt’s durchaus Luft nach oben.

 Amanda Ruf ist Mitarbeitende
in verschiedenen Sozialinstitutionen in Vorarlberg