Reisen erweitert den Horizont, führt zum Eigenen, prägt und verändert unsere Weltanschauung. Die Vorarlberger Künstlerin Bianca Tschaikner erzählt von ihren Reise-Erfahrungen und von ihrem neuen Buch, das eine Gesellschaft in Nordostindien beschreibt, in denen Frauen eine außergewöhnliche Rolle spielen.

Das Interview führte Patricia Begle, es erschien in der FrauenZEIT, den Sonderseiten des Vorarlberger KirchenBlatts, das zweimal im Jahr erscheint. Wenn Sie diese kostenlose Ausgabe bestellen möchten, können Sie das hier online machen.

Bianca, du bist in den letzten zehn Jahren sehr viel gereist. Was hat dich dazu bewogen?
Begonnen hat es mit einer Reise nach Marokko mit 20 Jahren. In Marokko erlebte ich ein Gefühl der totalen Gegenwärtigkeit, das ich viel später in einem Essay von Octavio Paz über unterschiedliche Zeitkonzepte im Osten und im Westen erklärt fand: In westlich-christlichen Kulturen wird die Zeit als linear empfunden, in östlichen eher als kreisförmig. Die westlichen Gesellschaften sind progressiv ausgerichtet - es geht immer weiter und weiter und weiter. In den östlichen Kulturen ist das Im-Moment-Leben ausgeprägter - eine Atmosphäre, in der ich extrem gut arbeiten konnte. Da dachte ich mir: das ist gut für meine Arbeit, da muss ich zurück. Und so hat das Reisen angefangen. Ich war zehn Jahre fast nur unterwegs. Ich lerne gerne Neues kennen. Lernen ist eines der vitalsten und schönsten Dinge im Leben - und Reisen die beste Art zu lernen. Für mich ist das Reisen die wichtigste Inspirationsquelle.

Gibt es Länder, die du immer wieder bereist?
Ja, Indien und Iran. Und Granada ist so etwas wie eine zweite Heimat für mich.

Was heißt für dich „Heimat“?
Einerseits der Herkunftsort, der Ort, der einen geschaffen hat, der vertraut ist und an den wir immer wieder zurückkehren. Dann gibt es Orte, an denen man sich aus anderen Gründen daheim fühlt. Das ist verbunden mit einem Zugehörigkeitsgefühl, das nichts mit Herkunft zu tun hat, es hat oft mit Menschen zu tun, aber auch mit einer Atmosphäre. Es ist das Gefühl, dass ich zu diesem Ort passe.

Deine Reisen fließen in deine künstlerische Arbeit ein. Was passiert da?
Reisen bedeutet für mich, Neues und Unbekanntes zu erfahren und mich damit auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung passiert bei mir auch in meiner Arbeit. Ich begebe mich an einen Ort und beobachte, nehme Eindrücke auf, die dann durch mich wieder hinaus aufs Papier gelangen. Ich empfinde das nicht als etwas, dass aus mir kommt, sondern etwas, das durch mich kommt, etwas, das im Zusammenspiel mit mir und der Umwelt entsteht.

Und wie sieht das Ergebnis konkret aus?
Ich erzähle Geschichten, mit Bildern und Texten. Das können Traditionen und Alltagsgeschichten sein, die ich sammle, oder Gedichte, die ich schreibe. Durch Geschichten lässt sich Kultur besser begreifen als durch ethnologische, wissenschaftliche oder statistische Beschreibungen. Und es sind Geschichten, die Verbindungen über Kulturen hinweg herstellen können, weil sie zeigen, dass wir alle im Grunde dieselben Wünsche und Bedürfnisse haben und das Fremde einem ähnlicher ist, als man vielleicht glaubt.

Dein neuestes Buch „Meghalaya“ ist während deines Aufenthalts beim Stamm der Khasi in Meghalaya im Nordosten Indiens entstanden. Was sind das für Menschen, die dort leben?
Über 90 Prozent der Khasi sind christlich, aber das System der Gesellschaft ist traditionell matrilinear, das heißt, Besitz und Familienname werden über die Frauen, über die jüngste Tochter, weitergegeben. Mädchen bekommen mehr Bildung, Jungs kommen eher aufs Reisfeld. Wenn ein Mädchen geboren wird, gibt es ein Freudenfest, bei Jungen nicht. Allerdings ist Politik eher Männersache.

Wie hast du das erlebt?
Es ist eine gleichberechtigte und entspannte Gesellschaft, in der man sich sehr wohl fühlt. Eine frauendominierte Gesellschaft ist etwas, das jede Frau einmal erleben sollte, um überhaupt eine konkrete Vorstellung zu bekommen, dass die Dinge auch anders sein können. Ich glaube, etwas wirklich zu erleben, anstatt es als bloße abstrakte Idee im Kopf zu haben, hilft enorm dabei, die Dinge dann auch für einen selbst in diese Richtung zu verändern.

Aber Frauen, die Geschäfte managen, gibt es bei uns ja auch.
Ja, aber dort ist es strukturell so. Bei uns liegt die meiste wirtschaftliche Macht und der meiste Besitz bei den Männern. Und dort gehört alles den Frauen. Das ist dort einfach normal, und es zeigt, dass es einfach an der Erziehung und unseren gesellschaftlichen Normen liegt, dass bei uns so wenige Frauen Unternehmerinnen sind.

Und die Kinder?
Die Menschen leben dort in Clans, da sind Kinder nie allein, da passt immer jemand auf. So aufzuwachsen ist eigentlich das Allernatürlichste. Es ist doch komisch, so wie es in unserer Gesellschaft läuft, dass Mütter nicht arbeiten und alleine mit ihrem Kind daheim sitzen. Matrilineare Gemeinschaften sind ideal, um Kinder aufzuziehen - dort arbeitet jede Frau, auch wenn sie kleine Kinder hat.

Wirkt sich das matrilineare System auf die Gesellschaft aus?
Das System ist gleichberechtigter. Es ist nicht ganz gerecht - aber Männer werden dort um Welten besser behandelt als Frauen im Patriarchat. Frauen unterdrücken Männer nicht - vielleicht als einzelne Personen, aber nicht strukturell.

Hat dich das Reisen verändert?
Ja, eindeutig. Man wird offener und flexibler. Reisen zeigt einem nicht nur, wie die Welt ist, sondern vor allem, wer man selbst ist. Man kann sein eigenes Land eigentlich nicht wirklich kennen, wenn man nichts von der Welt gesehen hat. Um das Eigene zu kennen, ist es wichtig, das „Andere“ zu kennen. Ohne den Abgleich eines Gegenübers kann ich nicht wirklich wissen, was ich eigentlich selbst bin. Und auf einer anderen Ebene findet man im vermeintlich Anderen dann wieder, dass es Dinge gibt, die überall gleich sind, das zutiefst Menschliche, das, was uns alle verbindet.

www.biancatschaikner.com

(aus der frauenZEIT Nr. 28 vom 4. Juli 2019)