"Ich bin heute ungehorsam", eröffnete die deutsche Erziehungswissenschaftlerin und Autorin Dr. Marianne Gronemeyer ihren Vortrag beim achten FrauenSalon. Denn statt über den versprochenen Konsumismus zu referieren, mache sie - ganz dem ursprünglichen Konzept des FrauenSalons folgend - einen Umweg über den "Mut zum Wesentlichen". Ganz mutig. Und eines gleich vorweg: den nahmen die rund 100 Teilnehmerinnen gerne in Kauf.

Marianne Gronemeyer ist keine Unbekannte. Als  Sozialwissenschaftlerin, Lehrende, Vortragende und Autorin referierte sie bereits auf zahlreichen Veranstaltungen, publizierte Bücher, erhielt Auszeichnungen und: sie gilt als radikale Kritikerin der modernen Konsumgesellschaft sowie der Versäumnisangst des modernen Menschen. Kein Wunder also, dass auch der achte FrauenSalon innerhalb kürzester Zeit ausverkauft war.

Das Mögliche, das wirklich werden will
"Dem Konsumismus trotzen" war dann auch Thema ihres Vortrags. Die Gefahr, dass man bei diesem Thema  nur daran denke, wie man sich diesen oder jenen Kaufakt verkneifen oder dem  Kaufrausch nicht erliegen könne, sei groß, so Gronemeyer. Und die Wortneuschöpfung  "Konsumismus" allein schon deshalb wichtig, weil sonst das "Systemische des Unwesens nicht erfassbar wäre". Womit wir auch schon beim Wesen bzw. beim Wesentlichen wären. Mut zum Wesentlichen ist das Konzept des FrauenSalons - also "das in dem Wesen enthaltene Mögliche", oder, wie es Gronemeyer noch formuliert: "Das Mögliche, das wirklich werden will."

Will und soll
Stünde statt dem Wörtchen "will" ein "soll", so wäre dieser Satz ein "Prachtstück aus dem Fundus moderner Selbstverständlichkeiten und zugleich eine Fanfare, die den Fortschrittsgeist beflügelt", so Gronemeyer.  Denn das sei der Grundimpuls der industriellen Gesellschaft, dass sie nichts von dem, was möglich ist, ungetan sein läßt. Da das Mögliche aber wirklich werden will, führt sie das Gleichnis vom Sämann ins Feld. Das Saatkorn könne alles, wozu es geschaffen und bestimmt sei von sich aus, vorausgesetzt, dass es auf guten Boden fällt. Es ist als Geschaffenes zugleich vollendet und im Werden: creatura. Im Gegensatz dazu steht der Macher, der das Werden nicht sich selbst überlassen kann, sondern alles steuern und lenken muss. Klingt sehr theoretisch, findet laut Gronemeyer aber bereits in der Schule Anwendung. "Man kann daran verzweifeln, wie wenig dort auf das Mögliche, das in jedem einzelnen Kind schlummert, gesetzt wird", erklärt sie. Und zwar immer gleich.

Die Technik besetzt den leergeräumten Gottesthron
"Die Zukunftsarrangeure und Weltverbesserungsexperten spüren unermüdlich neue Möglichkeiten auf, die dann geradezu nach Verwirklichung schreien", so Gronemeyer. Und während diese früher belächelt wurden, sind es  heute die technischen, bürokratischen und wissenschaftlichen Eliten, die sich der Weltoptimierung  angenommen haben.  Statt lediglich zu predigen, machen sie Unmögliches erst möglich und schließlich zur Wirklichkeit. Ein Wunder, dank dem "unser Laienverstand" lerne die " wissenschaftlich-technischen Errungenschaften wohltuend, ja heilsnotwendig zu finden und schließlich nur noch auf das technisch möglich Gemachte, unsere Hoffnung zu
setzen." Kurz:  Die Technik besetzt den leergeräumten Gottesthron. 

Der Mensch steht auf dem Spiel
Doch jeder Sieg (über die Natur) hat seinen Preis und so wird auch unendlich viel Mögliches endgültig unmöglich. Der moderne Mensch habe es unternommen, eine Umwelt zu errichten, in der es "kommt, wie man denkt, weil man kann, was man will", zitiert Gronemeyer den Philosophen Peter Sloterdijk. In dieser Welt kann der Mensch nur unter der Bedingung überleben, dass "er sich  selbst ständig umgestaltet, um sich anzupassen. Wir müssen uns ... klarmachen, dass der Mensch selbst auf dem Spiel steht“ (Ivan Illich). Und so stirbt in einer gänzlich künstlichen Welt die Lebenskunst aus.

Weil sie teuflisch sind
Wenn man es genau betrachte, gibt es "die" Lebenskunst aber gar nicht. Man könne von ihr nur im Plural reden, schließlich gibt es so viele Lebenskünste wie Menschen, die sich darin üben. "In dem Augenblick, in dem wir ihr definitorisch beikommen wollen, haben wir bereits aus der Kunst ein Programm, eine Direktive gemacht und das Mögliche, das wirklich werden will, in eins das wirklich werden soll, umgewandelt", so Gronemeyer. Wieso aber steht denn nun der Mensch auf dem Spiel, wenn er sich sowieso an seine Lebensumstände anpasst? Bedeutet  nicht Lebenskunst, sich zu arrangieren? Warum sollte man diese Weltverbesserungsanstrengungen verteufeln? "Weil sie teuflisch sind", so Gronemeyer.

Die Hölle ist mitten unter uns
Und: " Die globalen Katastrophen und Krisen, die Indienststellung ganzer Weltareale für das Wohlleben der Reichen, die immer rasender werdende Beschleunigung, unter der immer mehr Menschen in die Knie gehen, sind nur die auffälligsten Indizien dafür, dass die Hölle mitten unter uns ist oder wir in ihr", resümiert Gronemeyer. Ebenso gehöre es zum Höllenszenario, dass die Alltagswelt so undurchschaubar ist, dass wir "in ihr und von ihr nichts mehr lernen können", sondern mittels Bedienungsanleitungen über sie belehrt werden müssen. Lebenslänglich.  In weiterer Folge werde der "antiquierte Mensch" (Günter Anders) endültig entbehrlich gemacht und eine selbstgängige Maschinerie installiert werden. Um dann vom Menschenersatz zum Ersatzmenschen zu wechseln. Ersetzt durch Sachen entsteht ein neues Herrschaftsverhältnis - eine Anpassung bei der eben, wie von Illich proklamiert, der Mensch auf dem Spiel steht.

Alles ist verwischt
Anpassung und Anpassung sind dabei zweierlei - und es gelingt uns kaum mehr das zu durchschauen. Für den Unterschied zwischen reflexiven und passiven Gebrauch der Verben sind wir nicht mehr hellhörig. Der Unterschied zwischen "sich anpassen" und "angepasst werden" ist verwischt. Genauso zwischen "sich bilden" und gebildet werden", " sich heilen" und "geheilt werden", sich bewegen" und "bewegt werden" - um nur einige der Beispiele zu nennen.  "Du glaubst, Du schiebst und wirst geschoben, du glaubst du lebst und wirst gelebt. Wir genügen dem Anpassungszwang in der Geste der Frei-Willigkeit, und damit erübrigt sich jeder Widerstand auf unserer Seite und jede manifeste Gewalt auf der anderen. Das ist das Wesen eleganter Macht, dass die Untertanen wollen, was sie sollen und in fideler Anpassungsbereitschaft für ihre Ver-sachlichung und Ver-wertbarkeit selber sorgen. So bleibt die Macht inkognito", malt Gronemeyer ein düsteres Bild.

Macht erkennen, ohne sie anzuerkennen
"Lebenskunst ist nicht spektakulär und nicht grandios", kommt die Sozialwissenschaftlerin auf den Anfang zurück. Wer sich in ihr üben will, stößt an seine Grenzen - und während uns eingetrichtert wird diese als defizitär zu sehen, sind diese Begrenzungen vielleicht das Beste an uns. Ihnen verdanken wir unsere Eigenart (und Vielfalt), die für eine Gesellschaft so wichtig ist (sind). "Auf unsere Beschränkungen auf je eigene Weise zu antworten, mit ihnen und nicht gegen sie zu leben, darin könnte Lebenskunst bestehen", so Gronemeyer. Schließlich seien es die "machtvollen Expertenkasten, die deskretieren, was in einer Gesellschaft als normal zu gelten hat". Was wir tun müssen? Ihre Macht erkennen, ohne sie anzuerkennen.

Ich will nichts begehren, von dem was du verwaltest
Und diese Macht, so Gronemeyer, liegt in der Fähigkeit, Knappheit zu schaffen. Oder die Menschen glauben zu lassen, dass das was sie zum Leben brauchen, knapp sei. Wie Bildung oder Gesundheit zum Beispiel. Die Lösung? "Danke, nein" zur Macht zu sagen. Oder wie es Gronemeyer fomulierte: "Ich will nichts begehren, von dem was du verwaltest". Und so waren genau genommen, die Bemühungen der Frauenbewegung um "Integration" "damalsW" ganz verkehrt. Eigentlich sollten wir vor dem System desertieren, so Gronemeyer: "Klaustrophoben müssen wir werden. Nichts wie raus hier!".  Aber: das System wird keinen dieser Versuche unbestraft lassen, hält Gronemeyer fest. 

Frauen und Macht
Schwere und anspruchsvolle Kost also, die die Referentin mit Humor gespickt an diesem Abend zum Besten gab - und die von der musikalischen Begleitung von Theresia Natter (Gesang und Klavier) etwas aufgelockert wurde. Zum Diskutieren haben ihre Worte auf jeden Fall angeregt - zum Nachdenken ebenfalls, so der Tenor der rund 100 Teilnehmerinnen im Bildundgshaus. Und im November gehts dann weiter- beim neunten FrauenSalon und dem Thema "Frauen und Macht".