Jetzt kommen sie wieder in Scharen vom Arlberg herunter, mit schweren Schuhen und großem Rucksack, an dem die Pilgermuschel baumelt, und da kribbelt es in meinen Beinen und im Kopf: Ich muss mit!

Elisabeth Ebenberger

Bis über die Alfenzbrücke und bis zur nächsten Markierung … Einige werden ihr Ziel schon in Rankweil erreichen oder in Einsiedeln, manche erst nach 2000 Kilometern in Santiago de Compostela oder am Ende der Welt - Finisterre. Jakobsweg - Sternenweg, Pilgerweg!

Papst Johannes Paul II. hat in den 1990er-Jahren an die größten Ziele der Christenheit erinnert - Rom, Jerusalem und Santiago. Er hat damit nach etlichen Jahrzehnten fast erloschener Pilgertätigkeit einen Boom ausgelöst. Statt einiger hundert Pilger kamen nun wieder tausende: 2018 wurden eine Viertelmillion Fußpilger gezählt (Touristen nicht eingerechnet).

Der Auslöser für die Pilgerschaft von mir und meinem Mann war ein besonders trauriger Grund. Unser Sohn ist 25-jährig, nach langer schwerer Krankheit, gestorben. Wir taten uns sehr schwer, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Ihr müsst auf den Jakobsweg, bestimmte unsere Tochter. Wir nahmen ihren Rat an und machten uns auf den Weg. Und es wurde eine großartige Zeit - obwohl wir keine Fehler ausließen: zu große Etappen, zu schwerer Rucksack, zu wenig getrunken - und in den spanischen Mesetas zwischen Burgos und Leon scheiterten wir: Sonnenstich, Fieber, Erschöpfung. Die Flugambulanz brachte uns zurück. Den zweiten Abschnitt - die fehlenden 400 Kilometer - erledigten wir ein Jahr später, diesmal bei stürmischem, eiskaltem Westwind und Schneeregen. Nein, so nicht mit uns, Santiago! Nach zwei halben Wegen folgte dann ein ganzer Weg - harmonisch und beglückend, mit Urkunde in der Kathedrale!

„Unsere“ Pilger

Ich bin vom Jakobsweg-Virus befallen. Ich habe in Spanien eine Ausbildung zur „hospitalera voluntaria“ = Herbergsbetreuerin machen und seither mehr als 600 Personen auf ihrem Weg begleiten, beraten und informieren dürfen: als Herbergsmutter, als Begleiterin, als Pilgerin.

„Mit den Füßen beten“ oder „mit dem Herzen barfuß gehen“, nein, solche Verrenkungen machten wir nicht. Die Füße im Staub, den Kopf in den Wolken - zu zweit! In einem besonders intensiven und glücklichen Pilgerjahr feierten wir unseren 50-jährigen Hochzeitstag.

Freundschaften wurden geschlossen, halten bis heute an. Wir haben mit „unseren“ Pilgern gelacht, geweint, Spaghetti gekocht (was sonst?), Rioja-Wein getrunken (na klar!), Vater unser gebetet in mehr als einem halben Dutzend Fremdsprachen; wir kennen die schönsten, die anstrengendsten, die lohnendsten Wegabschnitte, die besten Herbergen und die gemütlichsten Bars unterwegs. Aber es geht nicht darum, bestimmte Etappen abzumarschieren oder möglichst viele Kilometer zu schaffen. Das Wichtigste beim Pilgern ist und bleibt dieses meditative Gehen: das Frei-Werden, das Loslassen schwerer Gedanken, die Geh-Trance, die im Kopf Platz macht für Neues. Das Pilgern hat unserem Leben neue Wege auf-
gezeigt, neue Möglichkeiten, andere Ideen und Pläne - und eine andauernde Sehnsucht danach.

Sie sind überall

Auf allen unseren Reisen und Wanderungen fallen mir die Jakobswegmarkierungen ins Auge: in allen Bundesländern Österreichs, in Tschechien an der Moldau entlang, in Istrien durch den Karst, in Kroatien an der Küste - immer wieder springen meine Gedanken wie Seepferdchen an Küstenwegen voran, wie Heuschrecken durch die glühenden Mesetas oder im Frühnebel durch das zauberhafte Galicien zu meinem Traumziel.
„Ultreya!“* - wie im mittelalterlichen Pilgerlied - immer weiter, „Deus adjuva nos.“**

Jeder Weg beginnt vor der eigenen Haustüre. Und wo wird er enden? Das, liebe Pilger/innen, hängt von euch ab: von eurer Zeit, von Kraft und Ausdauer, von eurem Willen und der Begeisterung für das Pilgern - zu einer Linie am fernen Horizont, wo Irdisches und Himmlisches zusammentreffen.

Ich wünsche euch allen einen guten, glücklichen und erfüllten Weg - Buen camino!
 
* span. „Vorwärts!“       ** lat. „Gott helfe uns.“

(aus der frauenZEIT Nr. 28 vom 4. Juli 2019)