Was wäre, wenn wir unser Leben nicht als „Sterbliche“, sondern von der anderen Seite - nämlich von unserem realen Anfang, der Geburt - her denken würden? Fragen wie diese waren Thema des FrauenSalons mit der evangelischen Theologin Ina Praetorius.

Wer schon einmal in einer Kirche war, der weiß, wie die Geburt Jesu dargestellt wird: eine vollständig bekleidete junge Frau hält einen sauber gewaschenen, lächelnden Säugling auf dem Arm. „Auf solchen Bildern ist aber weit und breit keine Geburt zu sehen“, bemängelt Dr.in Ina Praetorius u.a. die Absenz von Schmerz und Blut. Im Gegensatz zur meist realistischen Darstellung des Todes Jesu – mit Nacktheit, Blut und schmerzverzerrtem Gesicht. Und mit diesen Bildern fand man sich schon direkt im Thema des FrauenSalons, nämlich „Das Leben neu denken - von der Sterblichkeit zur Geburtlichkeit“.

Geburtlich? Geburtlich!

„Geburtlich“ ist ein eher ungewöhnliches Wort, das im Gegensatz zu „Sterblich“ kaum in der Theologie oder Philosophie vorkommt. Dabei sind wir alle geboren und Geburtlichkeit somit Anfang jedes menschlichen Seins und Ursprung unseres Zusammenlebens. Dennoch leben wir in einer geburtsvergessenen Gesellschaft. Im Körpergefängnis. „Man sagt uns, dass der Mensch eigentlich eine unsterbliche Seele ist, ein reiner, körperloser Geist“, erklärt Ina Praetorius das gängige Narrativ der Sterblichkeit. Geboren zu werden, bedeute für die Seele also in einen Körper eingeschlossen zu werden. „Das Körpergefängnis ist ausdrücklich als das Mütterliche bekannt“, weist die Theologin darauf hin, dass das griechische Wort „Materia“ von „Mater“, also Mutter stammt. Demzufolge müssen Mütter schuld sein, dass unsterbliche Seelen zu sterblichen Menschen werden und können als Widerpart oder Feindin des Geistes gesehen werden, der in seiner Seelenruhe durch Hunger, Schwäche, Müdigkeit, Lust ... gestört wird, führt die Feministin aus: „Und weil der Geist natürlich lieber alleine wäre, strebt die Seele danach den Zwischenzustand des Lebens zu verlassen.“ Oder um es frei mit Sokrates zu sagen: Mit dem Tod beginnt die Ewigkeit und damit die Freiheit der unsterblichen Seele.

Ein Durch-Einander

In Wirklichkeit sehe man bei der Geburt natürlich keine unsterbliche Seele in Materie schlüpfen, sondern einen kleinen blut- und schleimverschmierten Menschen aus einem großen Menschen kommen, betont Praetorius. „Eine Geburt ist ein Durcheinander, und schon gar nicht sauber“, aber „wenn's gut geht“ werde der Neuankömmling von einem fürsorglichen Miteinander aus Hebammen, Väter, Tanten, Freunden... empfangen. Denn „Menschen kommen durch einander in die Welt“. Das „Durch einander“ geht immer weiter und wird später ein Geben und Nehmen. Bis man eines Tages stirbt. „Ob danach etwas kommt, kann niemand wissen“, so die Theologin. „Fromme Leute würden sagen: Nur Gott.“

Tun, was man kann

Statt sich Fragen nach dem „danach“ zu stellen, sollte man sich besser dem  zuwenden „was uns erreichbar und unsere Aufgabe ist“:  Denn auch wenn sich vieles „Unangenehme“ nicht aus der Welt schaffen lasse, könne man es doch gestalten. Hunger kann man z. B. durch Erzeugung guter Lebensmittel für alle und Kochkunst begegnen; Krankheit und Tod durch Heilkunst, Pflege, Begleitung und Impfstoffe, die hoffentlich gerecht verteilt werden. „Unsere Aufgabe als Geburtliche ist, dass alle 7 1/2 Milliarden Menschenwürdeträger/innen, die irgendwo auf der Erde durch einander zur Welt gekommen sind,  bekommen was sie zum Leben brauchen“, betont Praetorius. Doch davon sind wir noch weit entfernt. „Folglich gibt es viel zu tun. Denn das Dasein und Tun ist das Eigentliche“, so die Theologin.

Geburtlich seit mindestens 1958

Der Begriff "Geburtlichkeit" ist nicht neu, eigentlich ist er schon relativ alt, denn bereits 1958 hat die Philosophin Hannah Arendt menschliches Dasein von Anfang her gedacht - also von Geburtlichkeit her und damit dem "postpatriachalen Narrativ der Geburtlichkeit" wichtige Anstöße gegeben. "Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömm­ling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen", zitiert Praetorius aus Arendts Werk "Vita activa oder Vom tätigen Leben", das bei ihr vom vielen Lesen schon ziemlich zerfledert sei.

Weihnachten - kein theologisches Schwergewicht

Seit 15 bis 20 Jahren beschäftige sie sich bereits mit dem Thema, erinnert sich Praetorius daran, dass sie Weihnachten für sich neu entdecken konnte. "Sterben kann man nur, wer geboren ist, also ist Weihnachten mindestens so zentral wie Karfreitag", hält Praetorius fest, dass Weihnachten theologisch "kein Schwergewicht" ist. "Es wäre vielleicht interessant, dieses Fest der Geburtlichkeit anders zu interpretieren", richtet sie eine indirekte Anfrage an das Frauenmuseum Hittisau. Seit sie es neu - geburtlich - denke, beginne Weihnachten für sie wieder zu leben und auch in alten Weihnachtslieder entdecke sie neue Stellen, die doch nicht patriachal seien. Wie würde ein Weihnachtsgottesdienst aussehen, der statt der „idyllischen Geburtsdarstellung“ eine tatsächliche Geburt abbildet? „Ich hätte Lust das mal auszuprobieren“, zeigt sich Ina Praetorius offen für mehr „Geburtlichkeit“.

Gebärneid und Penisneid

Rund 60 Frauen nahmen am zweiten Online-FrauenSalon teil und diskutierten im Anschluss in "Breakoutrooms" darüber, wie sich aus der Perspektive der Geburtlichkeit ihr Zugang zu ihrem Leben verändert hat. Und ob sie etwas anders machen möchten. Zahlreiche Wortmeldungen und Fragen zeigten, wie wichtig das Thema ist. Die Frage, ob es einen Gebärneid gibt, beantwortete Praetorius eindeutig: "Das ist naheliegend. Die Hälfte der Menschen können Menschen aus sich setzen." Da sei es naheliegend, dass Männer, die diesen Neid empfinden, eine riesige Philosophie darum herum aufbauen, "dass wir auf Penis neidisch sind". "Der ist auch wichtig, aber dass man darauf neidisch sein soll, finde ich unplausibel", stellte Praetorius klar. Nur leider hat der Gebärneid kulturell viel in Bewegung gesetzt - Frauenunterdrückung, Hexenverfolgung und Genitalverstümmelung zum Beispiel.

Den FrauenSalon zum Nachhören finden Sie online unter www.frauensalon-vorarlberg.at

Mehr zu Ina Praetorius finden Sie online unter www.inapraetorius.ch