Theologin Ina Praetorius ist überzeugt: Wenn wir Menschen nicht nur die „Sterblichkeit“, sondern auch die „Geburtlichkeit“ vor Augen haben, können sich unser Selbstverständnis, die Gesellschaft und die Wirtschaft nachhaltig ändern.
Die Fragen stellte Martina Winder
Frau Praetorius, in Ihren Büchern spielt der Begriff der „Geburtlichkeit“ eine wichtige Rolle. Vor ein paar Wochen ist ein neues erschienen: „Im postpatriarchalen Durcheinander. Unterwegs mit Xanthippe“. Auch hier ist die Geburtlichkeit wieder zentral. Was ist damit gemeint?
Praetorius: In der Philosophiegeschichte hat man uns Menschen viele Jahrhunderte lang als „die Sterblichen“ bezeichnet. Man hat uns also vom Ende her gedacht. In der Mitte des dominanten Menschenbilds steht deshalb Todesangst und entsprechend die Ausrichtung auf ein „Jenseits“. Das Jenseits hat in der Geschichte verschiedene Formen angenommen: Paradies, Himmel, Hölle, Ewigkeit ... Der Glaube an solche religiösen Versionen des „Lebens danach“ ist in säkularen Gesellschaften zwar schwächer geworden, aber immer noch verschiebt man das gute Leben in eine ungewisse Zukunft: ein finales Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage zum Beispiel oder die klassenlose Gesellschaft, die makellose Work-Life-Balance etc. Wenn ich nun beginne, uns Menschen von unserem Anfang, der Geburt her zu denken, dann rücken andere Aspekte des Menschseins ins Zentrum: Glück hier und jetzt, Angewiesenheit auf eine heile Natur und aufeinander, Gestaltungslust, Neugier, ein positives Verständnis von Körperlichkeit und Endlichkeit.
Hat das geburtliche Denken auch damit zu tun, dass Sie sich als Feministin verstehen? Beim Stichwort Geburt denkt man ja an Mütter, also an Frauen und ihre Fähigkeit zu gebären?
Praetorius: Den Frauen wird im Weltbild der „Sterblichen“ eine undankbare Rolle zugeschrieben: Als gebärfähige Menschen sind sie gewissermaßen schuld daran, dass der reine ewige Geist eingesperrt wird in einen vergänglichen Körper. Verräterisch ist die Etymologie: Im Wort Materie steckt Mater, die Mutter. Die Materia, das Mütterliche gilt konsequenterweise als das Gegenteil von Geist, woraus sich etliche der bekannten Ausschlussmechanismen ergeben: aus dem Priesteramt, der höheren Bildung, der Definitionsmacht etc. Im Wort Natur steckt das lateinische Verb nasci. Nasci heißt geboren werden. Indem man unsere Geburtlichkeit verdrängt hat, hat man auch vergessen, dass wir nicht Herren, sondern Teil der Natur sind, dass wir uns also selbst zerstören, wenn wir die so genannte „Umwelt“ nicht respektieren.
Hat das Denken der Geburtlichkeit auch mit der ökologischen Frage zu tun? Mit dem Klimawandel und einer grundlegend neu orientierten Politik?
Praetorius: Ja. Es ist nicht nur faszinierend, sondern auch in einem sozial-ökologischen Sinne heilsam, an den Grundlagen unserer Denkgewohnheiten zu arbeiten. Geburtliches Denken bedeutet, einen neuen Anfang in der Denkgeschichte zu setzen. Manche nennen das „naiv“. Auch das Wort naiv leitet sich vom lateinischen Verb nasci ab. Konstruktiv verstanden bedeutet Naivität: mit dem Anfang anfangen. Naivität in diesem philosophisch qualifizierten positiven Sinne ist zukunftsweisend. Es ermöglicht mir, „dumme“ Fragen zu stellen, zum Beispiel an Ökonomen, die uns immer noch erzählen, der „freie Markt“ und „Innovation“ würden es schon irgendwann richten und den Klimawandel in den Griff kriegen, ohne dass wir etwas an unserer Politik, unseren Denkgewohnheiten und unserem Verhalten ändern.
Ist geburtliches Denken auch ein neuer Ansatz für die Gleichstellung von Mann und Frau?
Praetorius: Ich finde das Wort und das Ziel „Gleichstellung“ oberflächlich. Sicher: Es war wichtig, für das Wahlrecht zu kämpfen, für ein nachpatriarchales Eherecht, für das Recht der Frauen, in den gegebenen Institutionen mitzureden, in Parlamenten und Universitäten zum Beispiel. Aber Gleichstellung in einem System, das von weißen bürgerlichen Männern unter Ausschluss von weit mehr als der Hälfte der Menschheit fabriziert wurde, kann nicht das Ziel sein. Vielmehr geht es langfristig darum, das menschliche Zusammenleben diesseits der jahrhundertelang angemaßten Definitionsmacht weißer Männer neu zu organisieren. Ich habe damit angefangen, indem ich im Jahr 2015 einen Text geschrieben und einen Verein mitgegründet habe, die beide „Wirtschaft ist Care“ heißen. Wir fordern nicht in erster Linie, dass Frauen in einer Wirtschaft gleichgestellt werden, die weiterhin um Geldvermehrungsfantasien kreist. Wir klären stattdessen, was Wirtschaft überhaupt ist und sein soll. Der Begriff Ökonomie leitet sich von zwei griechischen Wörtern ab: oikos und nomos. Oikos heißt Haus oder Haushalt, Nomos heißt Gesetz oder Lehre. Die Oiko-Nomia ist also die Lehre vom Welthaushalten. Das entspricht traditionellen Lehrbuchdefinitionen: Ökonomie ist die Theorie und Praxis der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, also Sorge füreinander, also Care. Unbezahlte Care-Arbeit, der größte, vor allem von Frauen besetzte Wirtschaftssektor, ist demzufolge keine Randregion, sondern die organisierende Mitte der Wirtschaft. Das hat Folgen!
Soll das heißen, dass geburtliches Denken auch die Wirtschaftswissenschaft und die Praxis des Wirtschaftens verändert?
Praetorius: Ja. Spätestens die Pandemie sollte uns gelehrt haben, dass wir als geburtliche, natürliche Wesen nicht in erster Linie auf immer bessere Finanzprodukte und Versicherungen, auf immer perfektere Technologie und immer größere Luxusmobilität angewiesen sind, sondern auf Daseinsvorsorge, funktionierende Infrastruktur, ein resilientes Gesundheitswesen und die entsprechenden Care-Kompetenzen. Klar sind Beatmungsgeräte wichtig, aber ohne Pflegepersonal nützen sie nichts. Klar braucht es Impfstoffe und Medikamente, aber sie erlösen uns nicht vom Klimawandel. Und jetzt stellen Sie sich vor, die Weltwirtschaftsforum-Elite würde nächstes Jahr in Davos von solchen Voraussetzungen her neu verhandeln: Was braucht es, damit siebeneinhalb Milliarden reale geburtliche Menschen zusammen mit unzähligen anderen Lebewesen auf dem Planeten Erde gut leben können? Nicht irgendwann später, sondern jetzt, und zusammen mit all den wirklich verletzlichen neugierigen Kindern und Kindeskindern, die auch in Zukunft noch gut in der Welt sein wollen.
In welcher Hinsicht wirkt geburtliches Denken noch?
Wir können uns dadurch klar machen: Jeden Tag kann ich wie neu geboren sein, die ganze Welt steht mir offen. Ich kann mich verändern und einen Neuanfang wagen. Auch im Alter. Vieles von dem, was wir einst gelernt haben, können wir neu lernen.
Dieses Interview erschien in ähnlicher Form bereits auf www.100.frauen.ch
Termintipp:
Ina Praetorius beim FrauenSalon Vorarlberg "Das Leben neu denken - von der Sterblichkeit zur Geburtlichkeit"
12. Mai 2021, 19 Uhr.
Buchtipps:Ina Praetorius: Im postpatriarchalen Durcheinander.Un-terwegs mit Xanthippe. Christel Göttert Verlag, 2020.Ina Praetorius: Wirtschaft ist Care oder: Die Wieder-entdeckung des Selbstverständlichen. Heinrich Böll Stiftung, 2015.
www.wirtschaft-ist-care.org