"Die Wahrheit wird euch frei machen!" Das zutiefst biblische Hoffnungsbild gilt Opfern und Tätern von sexuellem Missbrauch gleichermaßen. Es gilt auch für die "Organisation" Kirche, die gut daran tut, sich nicht nur - was absolut notwendig ist - mit einzelnen Personen auseinanderzusetzen sondern sich auch selbstkritisch der eigenen Wahrheit zu stellen und zu fragen: Wo sind im eigenen Bereich, durch welche Einflüsse auch immer, Haltungen entstanden, die neurotisierend wirken? Die die persönliche Reifung von Menschen erschweren, statt sie voranzutreiben? Die lange Zeit Verdrängung, Spaltung und Vertuschung begünstigt haben? Welche - radikalen, weil zu den Wurzeln jesuanischen Denkens zurückgehenden - Veränderungen sind notwendig, damit Menschen im Raum der Kirche zu starken, ausgereiften Persönlichkeiten mit integrierter Sexualität heranreifen können? von Petra Steinmair-Pösel

Sie reißt nicht ab: die Kette der Meldungen über sexuellen Missbrauch. Eine Zeit lang schien es fast, als wäre damit ein dunkles Charakteristikum der (katholischen) Kirche angesprochen. Vermutungen, der Pflichtzölibat sei schuld an der Misere, waren schnell bei der Hand. Die unausgesprochene Logik im Hintergrund: Wer nicht in einer Beziehung lebt, „vergreift“ sich eher an Kindern. Dass dies so nicht stimmt, zeigen nicht nur Statistiken, aus denen hervorgeht, dass etwa 80% der Missbrauchsfälle innerhalb der Familie auftreten, sondern auch jüngste Meldungen von sexuellem Missbrauch an nichtkirchlichen (Elite-)Schulen.

Kein Grund, die „kirchlichen Fälle“ zu verharmlosen oder geringzureden. Das hat Kardinal Schönborn sehr klar festgestellt und gleichzeitig konkrete Schritte angekündigt, um in Zukunft noch angemessener auf Opfer und Täter eingehen zu können. Die biblische Zusage „die Wahrheit wird euch frei machen“ gilt beiden – Opfern und Tätern, in der Kirche wie außerhalb.

Mit Blick auf die Zukunft und unsere Kinder liegen jedoch sowohl innerkirchlich als auch gesamtgesellschaftlich brennende Fragen vor uns: Welche Bilder von Sexualität prägen unsere Gesellschaft – insbesondere die Medien? Wie kann es der Kirche gelingen, sich ohne Denkverbote den dunklen, neurotisierenden und letztlich nicht evangeliumsgemäßen Anteilen ihrer Geschichte zu stellen? Und eine lebensfreundliche Sexualmoral zu formulieren, die Menschen in ihrer Persönlichkeit reifen und ihr positives Potential zur Entfaltung bringen lässt – und das ganz unabhängig davon, ob sie in einer (hetero- oder homosexuellen) Beziehung oder allein leben?