Kann „Einstehen“ erlernt werden? Was braucht es dafür? Wo wird die Fähigkeit grundgelegt? Wir fragen bei einer Psychologin nach.

Was brauchen Menschen, um für etwas einstehen zu können?
Anja Burtscher: Mut, Selbstvertrauen und Selbstwert kommen mir in den Sinn. Vertrauen in mein eigenes Können, in mein Handeln - „ich kann etwas durchziehen, auch bei Gegenwind durchhalten.“ Selbstwert beinhaltet, dass ich Zugang zu meinen Schwächen habe, dass ich sie nicht abwerten und mich nicht entwerten muss, dass ich zu mir sagen kann: „Es darf sein, dass es schwierig ist, dass das Gefühl jetzt da ist - es hat eine Geschichte, will aufmerksam machen. Es ist gut so.“ Schwächen machen mich ganz. Wenn ich eine Verbindung zu dem habe, was gut und was schwierig in mir ist, dann verleiht mir das Bodenhaftung. Wenn ich nur meine Stärken anschaue und denke: „Ich bin so toll“ - dann gebe ich etwas vor und steh damit quasi nur auf einem Bein.

Und dann ist das Einstehen natürlich schwieriger.
Burtscher: Ja, dann kann ich mich nicht mehr gut vertreten. Wenn ich meine Schwächen nicht annehme, dann versuche ich, Situationen zu vermeiden, die mich mit ihnen konfrontieren. Wenn ich zum Beispiel Angst vor Konflikten habe, weiche ich diesen aus. Einerseits bringt mich das um wichtige Entwicklungsschritte. Andererseits bringt es mich von mir weg - von dem, was ich kann und will und bin.

Wie kommt ein Mensch zur Fähigkeit, für sich einzustehen?
Burtscher: Er braucht dafür eine Spiegelung, ein Gegenüber, das präsent ist, das sich zurücknehmen kann und sich auch zeigen kann, also auch seine Emotionen zeigen kann - mit der Einschränkung, dass diese nicht bedrohlich sind - gerade für ein Kind. Wenn ein Kind gehalten und getragen wird in einer liebevollen Beziehung, in der auch Auseinandersetzung passiert, in der Emotionen auch benannt und erklärt werden, dann ist das eine gute Basis für seinen Selbstwert.

Was geschieht, wenn ein solches Gegenüber fehlt?
Burtscher: Wir haben in uns ein Gespür, das uns bei Entscheidungen leitet, das sagt, was gut ist und was nicht gut ist. Es ist auf das Gute ausgerichtet. Fehlt eine solche tragende Beziehung, kann dieses Gespür verschüttet sein. Wir richten uns dann nach den Wünschen und Erwartungen von außen - Kinder meist nach jenen der Eltern. Wenn wir dann nicht mehr mit dem Herzen dabei sind, bei dem was wir tun, nicht mehr uns selbst hineingeben, dann macht das auf Dauer unglücklich und leer.
Es gibt viele Möglichkeiten, diese Leere abzuschwächen, Suchtmittel sind eine Form. Sie unterscheiden sich von anderen darin, dass sie existenzbedrohlich werden können.

Wie kommen Menschen in der Therapie wieder zu diesem Gespür?
Burtscher: Eine Übung besteht zum Beispiel darin, in der Gruppe ein Feedback zu geben. Dazu steht eine Person auf, schaut jenen Menschen an, dem sie Rückmeldung geben will, formuliert das Verhalten und welches Gefühl das bei ihr ausgelöst hat und schließt mit einem Wunsch ab. Das Gegenüber, das auch aufgestanden ist, nimmt alles entgegen, setzt sich und lässt alles setzen. Erst später gibt es, wenn es dies braucht, die Möglichkeit, zu antworten. Wir üben also im ganz alltäglichen Zusammenleben das Hinspüren, Hinstehen und Einstehen für sich selbst.

Was braucht es, um für andere bzw. eine Sache einzustehen?
Burtscher: Gleichgesinnte. Und auf gesellschaftspolitischer Ebene: Politiker/innen, die hinhören. «

Anja Burtscher (Alexander Ess)Anja Burtscher leitet die Therapiestation Carina.

Die Fragen stellte Patricia Begle

(aus der frauenZEIT Nr. 29 vom 21. November 2019)