Mit Integration verbindet die Bloggerin Kübra Gümüsay in erster Linie "Gleichmacherei", "gesellschaftlichen Stillstand" oder "Sich Aufgeben". Partizipation, so die Deutschtürkin wäre ein ein viel besserer Begriff. Doch wie soll die zunehmend pluraler werdende Gesellschaft zusammen leben? Wie die Vielfalt "unter einen Hut" bringen? Und wollen wir das überhaupt? Diese und ähnliche Fragen waren Thema des 5. Ethikforums am 28. Februar im Kulturhaus Dornbirn.

Was eint uns? Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Diese Fragen hat die Studentin und Bloggerin Kübra Gümüsay in Deutschland Menschen auf der Straße gestellt. Und die Antworten fielen sehr unterschiedlich aus: Bildung, Glaube, Wohlstand, Sprache, der Wiederaufbau des Landes, Kirche, Freiheit ... waren nur einige der vielen Rückmeldungen.  Das Wort "Freiheit" hat es Gümüsay dabei besonders angetan, schließlich sei es definiert und undefiniert zugleich. Könne alles oder auch nichts bedeuten. Und ließe sich von allen mitprägen.

Integrier dich!
"I want you to integrate" hat der deutsche Politiker Thilo Sarrazin Gümüsay einst auf die Frage entgegnet, was er eigentlich von ihr wolle. Sich integrieren also. Zu einer in Deutschland aufgewachsenen, fest in diesem Land verwurzelten, perfekt Deutsch sprechenden, kopftuchtragenen Muslima. "Keiner weiß was es ist, aber jeder weiß was es nicht ist", versucht Gümüsay den Begriff "Integration" zu erklären. Identifiktion laufe auf Abgrenzung hinaus, also worin solle man sich integrieren? Was ist das große Ganze?  Oder, um es anders zu formulieren: Was ist es, was uns ausmacht?

Ein Kopftuch und die Frage nach Freiheit
Es sind Werte, die uns einen, so Gümüsay, und nicht der wirtschaftliche oder soziale Hintergrund. Auch die Freiheit könne einen, wenn man z.B.  Religionsfreiheit oder Meinungsfreiheit als Werte nehme. Und wenn man die Freiheit der anderen nicht als Bedrohung aufnehme. Erst durch die Freiheit der anderen würden wir lernen, was Freiheit ist. Gümüsay verdeutlicht dies mit einem Beispiel, das sie auch an diesem Tag am Leibe trägt: dem Kopftuch. Darf eine freie feministische Frau kein Kopftuch tragen, fragt sie? Kommt darauf an, welche Bedeutung man Kleidung gibt. Durch Vielfalt lernen wir erst Freiheit zu schätzen, so Gümüsay. Aufgezwungene Freiheit macht nicht glücklich: Jeder hat seine eigenen Hürden und wir sind mitverantwortlich, dass andere nicht glücklich sind, weil wir ein Ideal fordern, das keiner je erreichen kann - egal ob in Bezug auf Bildung, Schönheit oder wirtschaftlicher Stand.

"Partizipation" statt Integration
Integration bedeutet, dass Menschen etwas aufgeben müssen, sich in diesem Prozeß verlieren, kritisiert die Bloggerin. Integration bedeute auch, sich einem  "Status quo oder der Vergangenheit anzupassen, aber nicht gemeinsam die Zukunft zu gestalten", so Gümüsay. Für sie gleichbedeutend mit gesellschaftlichem Stillstand. Menschen, die als "erfolgreich integriert" gelten, haben sich immer eingebracht, haben "partizipiert" statt sich zu integrieren. Sie haben ihr Schätze und Wirklichkeiten eingebracht und so mehr Farbe in unsere Gesellschaft gebracht. Türkisch denken, aber deutsch schreiben, führt sie als Beispiel an. Und so lautet das Zauberwort für Gümüsay auch "Partizipation" statt Integration. Gemeinsam die verschiedenen Herkünfte einbringen, gemeinsame Nenner suchen und gemeinsam Platz schaffen.

Migrationshintergrund als Defizit?
Menschen mit Integrationshintergrund denken zudem defizitär, erklärt Gümüsay. Sie sehen immer die Lücken, die eigentlich Schätze sind. Das "Defizit" keine Eltern aus Deutschland zu haben, weil man so die Mentalität nicht so gut versteht, soll als Schatz gesehen werden, das für z.B. Deutschland wichtig sein könne. Es sei wichtig sich einzubringen, mitzumachen und sich einen Platz in der Gesellschaft zu suchen, hält Gümüsay fest. Und deshalb fordert sie auch: Lasst uns die Intergration töten und die Partizipation fördern. Und gemeinsam die Zukunft gestalten, denn wenn einem gemeinsame Themen wichtig sind, tritt die verschiedene Herkunft zugunsten der gemeinsamen Passion in den Hintergrund.

MigrantInnen sind keine Eindringlinge
"Meine Kultur - deine Kultur - unsere Kultur?" ist Thema des Vortrags der Soziologin Prof. Dr. Brigitte Hasenjürgen. "Kein zweiter Begriff ist so  aufgeladen, wie 'Kultur'", erklärt sie ihn zum Kampfbegriff. Deshalb brauche es auch einen sozialwissenschaftlichen, kälteren Blick, um darauf zu schauen. MigrantInnen spielen eine wichtige Rolle und seien weder Eindringlinge, noch Opfer oder zu Integrierende. Sie sind Mitgestaltende.

Nicht bäh, sondern erwünschenswert
Der Blick auf MigrantInnen und ihr (kulturelles) Gepäck offenbart einiges: "Es migrieren Menschen und es bleiben Menschen", so Hasenjürgen.  Und: Hybridität, also Mischformen sind angesagt. Oder wie es Hasenjürgen formuliert: "Mischformen sind nicht bäh, sondern erwünschenswert". MigrantInnen sind auch nicht innerlich zerrissen, sondern nutzen ihre Ressourcen um aktiv mitzugestalten. Sie möchten nicht ständig auf ihre Herkunft angesprochen werden. Sie sind Akteure, die im Gepäck nicht nationale Kultur und Identitäten herumführen, sondern erlernte Praktiken dabei haben, die sie aber auch ablegen können.

Kultur ist nicht, sondern geschieht
Aber was ist denn jetzt nun mit der Kultur?  Eben: "Kultur ist nicht, sondern geschieht", erklärt Hasenjürgen. Natürlich haben Denkfiguren ihre Vorzüge und vermitteln Orientierung und Sicherheit. Sie kennen doch sicher den temparamentvollen Südländer, die flinke Chinesin oder den pünktlichen Deutschen, oder? Aber diese schnelle Unterscheidung bringt auch Probleme mit sich: Die vorschnelle Interpretation von sozialen, ökonomischen oder politischen Problemen als kulturelle (ethische) Probleme zum Beispiel. Alltagsrassismus oder die Identitätsfalle. Denn: es gibt keine deutsche Kultur - eine Kultur für über 80 Millionen Menschen - und es wäre laut Hasenjürgen auch ein Horror, wenn es so wäre.

Kultur wird sozial konstruiert
Wir sind kulturelle Mischwesen und die "Inhalte unserer Koffer", um es symblisch zu sagen, verändern sich. Deshalb haben wir nur Transkulturen. Was also lernen wir daraus? MigrantInnen sind handelnde Individuen - und nur wenn sie nicht Büttel ihrer Kultur sind, haben sie Handlungsfähigkeit. Kultur muss "entdramatisiert" werden und wir müssen lernen mit Unsicherheiten umzugehen. Kultur ist keine Lebensweise einer sozialen großen Gruppe. "Was zählt, ist nicht ein gemeinsam geteilter Kultur- und Wertehimmel. Was zählt ist allein die immer wieder neu auszuhandelnde Verständigung darüber, wie alle Beteiligten in einer demokratischen Migrationsgesellschaft zusammen leben wollen", so Hansenjürgen. Und da könne es nicht nur Toleranz geben, sondern müsse auch einmal gestritten werden.

Persönliche Begegnungen und Kommunikation
Den Vormittag beschloss Dr. Eva Grabherr von okay.zusammen leben mit einem dritten Vortrag, in dem sie erklärte, dass Integration mit der Frage der sozialen Gerechtigkeit zu tun habe. Vor rund 12 Jahren startete okay.zusammen leben - deren Inhalt Menschen sind, die gekommen  und geblieben sind mit ihren Besonderheiten und Verschiedenheiten. Sie zeigte die verschiedenen Perspektiven der Integration auf: der Mehrheit, die sich auf das neue, die andersartige Kleidung und religiösen Symbole  einlassen muss. Die Perspektive der kleinen Gruppe, die auf ihre Verschiedenheit verzichten und sich damit "unterwerfen" soll. Und die Sicht des Systems, dass sich mit einer Gruppe konfrontiert sieht, die Berücksichtigung verlangt. Was aber gegen gruppenbezogene Vorurteile hilft, sind persönliche Begegnungen und Kommunikation!

Begegnung, Begegnung, Begegnung
Musikalisch untermalt wurden die kurzen Übergänge zwischen den einzelnen Vorträgen sowie die Pausen mit einer musikalischen Begegnung zwischen Aydin Bally und Markus Dürst - und ihrem Saz und Akkordeon. Der Nachmittag war geprägt von vier Lerncafes, in denen es neben Fragen und Ängsten um Umgang mit Flüchtlingen auch darum ging, was die Gesellschaft verbindet. Grabherr informierte über das Projekt "docken", welches Begegnung als ein "Elixier für eine vielfältige Gesellschaft" aufzeigt und auch für Fragen aller Art blieb im Lerncafe "Open Space"  Raum.

Information war überhaupt das Schlüsselwort im Kulturhaus, zeigte doch der Marktplatz der Initiativen die Vielfalt der Kulturen in Vorarlberg auf. Beispielsweise mit dem "Eltern.Chat" des Katholischen Bildungswerks, der ARGE Christen und Muslime oder "Grenzenlos kochen".