Rund ein Prozent der Menschheit befindet sich derzeit auf der Flucht. Und keine Polizei, kein Meer, Grenzen oder Zäune werden sie aufhalten, betont der Journalist und Nahostexperte Ulrich Tilgner beim Gesellschaftspolitischen Stammtisch Anfang dieser Woche in Dornbirn. Was also tun?

Ulrich Tilgner zum Hören in „Focus" – Themen fürs Leben bei ORF Radio Vorarlberg mit Johannes Schmidle
Samstag 14. Mai 2016, 13.00 bis 14.00 Uhr
Donnerstag, 19. Mai 2016, 21.00 bis 22.00 Uhr (Wiederholung)

Ulrich Tilgner ist kein Unbekannter. Der deutsche Journalist, Auslandskorrespondent und Sachbuchautor hat rund 35 Jahre lang aus dem Nahen und Mittleren Osten berichtet. Kein Wunder also, dass mehr als 120 Interessierte die Chance beim Gesellschaftspolitischen Stammtisch zum Thema „Wir ernten, was wir säen“ nutzten, um mit ihm einen Blick hinter die Kulissen von Waffenindustrie, Flüchtlingskrise, Krieg und Terror zu werfen. 

Kollateralschäden

Weltweit werden derzeit 16 Kriege geführt, erklärt Tilgner. Nur dass die heutigen Kriege im Gegensatz zu „früher“ internationalisiert sind. Die neue Form des Krieges führe über Ländergrenzen hinweg und finde oftmals in der Luft statt. Das sei eine „besonders hinterhältige Form des Kriegs“, weil sie viele Zivilisten - darunter zahlreiche Frauen und Kinder - das Leben kostet. So hätten in den letzten zwei Jahren allein in Syrien und im Irak rund  12.000 Luftangriffe stattgefunden. Wie viele Menschen dabei starben, wird nicht berichtet. Anders sehe es bei Terroranschlägen in Europa aus. „Terror ist in der arabischen Welt Alltag und in Europa eine Ausnahme“, bringt er es auf den Punkt.

Migration gab es immer

Aus Angst und Perspektivenlosigkeit fliehen die Menschen nach Europa. In Länder, die mitverantwortlich sind an ihrer Lage. 59,5 Millionen Menschen befinden sich derzeit auf der Flucht. Ein Trend, der zwar nicht neu ist, aber seit zehn Jahren kontinuierlich zunehme. In der Hoffnung auf ein besseres Leben nehmen sie Todesrouten über das Mittelmeer oder auch die Hilfe von Schleppern in Kauf. Die Wertediagramme haben sich verschoben, kritisiert Tilgner, dass die Schlepper heute als Kriminelle bezeichnet werden, während sie in den 70er/80er Jahren in der Bundesrepublik gefeiert wurden. Sie werden ebenso kriminalisiert wie die Flüchtlinge.

Krieg - Politik mit anderen Mitteln

1776 Milliarden Dollar haben alle Länder der Welt laut dem Friedensforschungsinstitut SIPRI im vergangenen Jahr für Rüstung ausgegeben. Über die Zahl der Sozialausgaben müsse man da gar nicht sprechen, kritisiert der Journalist. „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, zitiert Tilgner Carl von Clausewitz und ergänzt, dass Krieg Teil der Alltagspolitik sei. Der Krieg sei nach Europa zurückgekehrt und werde an vielen Fronten geführt, erinnert der Nahostexperte an die Anschläge in Belgien und Frankreich. Nur dass die Opfer von Paris und Brüssel eben als Terroropfer und nicht als Opfer eines Kriegs zwischen zwei Parteien bezeichnet werden, ärgert sich Tilgner.

Und nun?

Auf die Frage nach einer Lösung muss auch er die Schultern zucken und gibt dem nicht funktionierenden internationalen Ordnungsrahmen die Schuld. Die Politik der westlichen Staaten habe den Terrorismus beflügelt und ihm Vorschub geleistet, erklärt Tilgner. „Es ist erschreckend zu beobachten, dass jene straflos bleiben, die Konflikte auslösen. Gleichzeitig scheint die internationale Gemeinschaft unfähig zur Kooperation, um Kriege zu beenden sowie Frieden zu schaffen und sichern“, zitiert er den UN-Flüchtlingskommissar António Guterres. Ulrich Tilgner fordert eine Politik der kleinen Schritte, in der die Politiker gefordert sind umzudenken. Nicht von Wahl zu Wahl, nicht kurzfristig. Es sei wichtig nachzudenken wo staatliche Maßnahmen sinnvoll eingesetzt werden können.  Die politischen Grundparameter müssen geändert werden, denn für Frieden brauche es gerechte Strukturen. Der Frage, was nun jeder persönlich leisten kann, begegnet er mit Beispielen von kleinen Hilfsorganisationen, die von Privatpersonen initiiert und umgesetzt werden. Eine Lösung ist noch nicht in Sicht.

Hier finden Sie die gesamte Veranstaltung zum Nachhören auf Youtube.