Die Ängste der Menschen in Vorarlberg standen im Fokus des Gesellschafts­politischen Stammtisches im Kolpinghaus in Dornbirn. Nach einem Vortrag des Psychoanalytikers und Sozialpsychologen Dr. Günther Rösel diskutierten mit Petra Steinmair-Pösel: Der Leiter der Landes­polizeidirektion Hans Peter Ludescher, der Journalist Thomas Matt und der Koordinator des Kriseninterventionsteams Thomas Stubler.

Wolfgang Ölz

Dr. Günther Rösel ist Psychoanalytiker mit eigener psychotherapeutischer Praxis und analysiert als Sozialpsychologe Phänomene wie die Angst in unserer Gesellschaft. Die Angst komme besonders auf, wenn verschiedene angstmachende Tatsachen miteinander gemischt werden, z.B. der Amoklauf in Nenzing, der internationale Terrorismus, die Bedrohung unserer Kultur und Demokratie, die „Fremden“, Bettler, Einbrecher und die Angst, vom eigenen Wohlstandskuchen etwas abgeben zu müssen. In solch einer „Melange aus Angst“ werde alles vermischt. Die Klienten in der Praxis von Rösel kämen vom Hundertsten ins Tausendste, und es gäbe oft keinen rationalen Zusammenhang. Die Psychotherapie habe da die Aufgabe die „leise Stimme der Vernunft“, wie es Sigmund Freud ausdrückt, vernehmlich zu machen.

Redewendungen bestimmen Angst

Der „gesellschaftlichen Produktion von Unbewusstheit“ begegnet der Therapeut mit genauem Hinschauen und Analysieren der Gefühle. Die Stimmung der Angst blockiere das Denken. Ziel sei es, mehr ins Denken zu kommen, damit die Angst nicht sofort in Aggression umgewandelt wird. Rösel bezieht sich auf eine Sprachtheorie von George Lakoff, nach der der Mensch in Redewendungen denkt. Metaphern wie „Nur die Starken kommen durch“ - oder auf Vorarlberg gemünzt: „Üser subers Ländle“ - bestimmen, wie die Menschen sein müssen, was sie fühlen und denken dürfen. Deswegen sei es Aufgabe der Psychotherapie diese Redewendungen genau in den Blick zu nehmen, und auf ihr Angstpotential abzuklopfen.

Logik des Herzens

Die Gegenwart sei jedenfalls eine Zeit, die durch große Unsicherheiten und Ängste geprägt ist. Aus der Sicht des Sozialpsychologen gehören dazu Wirtschaftskrise, Sozialabbau, Zukunftsangst, Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse, Robotik, neue Industrie, Klimakrise und durch Digitalisierung beschleunigte Globalisierung. Das Gebot der Stunde sei Selbstoptimierung, einhergehend mit Entsolidarisierung. Das gesellschaftliche Über-Ich fordere Flexibilität und die Zelebration der „Happyness“. Dagegen seien Scheitern und Angst Tabuthemen, obwohl sie zum Menschen gehören. Mehr noch, die Menschen verlieren sich, so Rösler, in einer Angst-Aggressions-Spirale, die nur durch Gefühlsbindungen, durch Empathie, durch Mitfühlen mit den anderen Menschen in der Logik des Herzens (Blaise Pascal) überwunden werden könne.

Kriminalität im Land nimmt ab

Petra Steinmair-Pösel griff dieses Plädoyer für die Empathie auf und fragte die Diskutanten, was ihnen gesellschaftspolitisch am meisten Angst mache. Günther Rösel nannte die Entsolidarisierung. Thomas Matt problematisierte die neuen Rattenfänger, die versprechen versteckte Wünsche zu erfüllen. Hans Peter Ludescher hingegen sieht trotz Migration, Internetkriminalität und anderen neuen Herausforderungen an die Exekutive keinen Grund sich zu ängstigen. Der Landespolizeidirektor stellte auch klar, dass die Verbrechen in Vorarlberg laut Statistik abnehmen, obwohl das subjektive Unsicherheitsgefühl der Menschen in Vorarlberg zunehme. Thomas Stubler  betonte das Positive: In seiner Arbeit im Kriseninterventionsteam sei er immer wieder erstaunt, wie schnell soziale Netze in extremen Notlagen greifen. 

Welche Wege führen nun aus der Angst? Rösel empfahl, dass wir lernen über Konflikte zu sprechen. Das „Ins-Wort-Kommen“ der Gefühle sei zentral. Moderatorin Petra Steinmair-Pösel gab den Besucher/innen des  Stammtisches am Ende noch etwas mit auf den Heimweg: In der Bibel steht 365-mal „Fürchte Dich nicht!“ - für jeden Tag des Jahres einmal.

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