Auf der Intensivstation ist das Leben intensiv, denn Menschen sind dort mit dem Tod konfrontiert. So auch Dr. Volkmar Büchner. Im Gespräch mit Jürgen Mathis erzählt er von seinen Erfahrungen und seiner Haltung, von dem was ihn leitet und ihm Kraft gibt.

Das Interview führte Jürgen Mathis

Sie müssen oft schwierige Entscheidungen treffen. An welche erinnern Sie sich?  
Volkmar Büchner, Arzt am LKH FeldkirchVolkmar Büchner: Auf der Intensivstation gibt es oft Grenzsituationen zwischen Leben und Tod und so haben wir viele schwierige Situationen und Entscheidungen. Mir kommen hier viele Erfahrungen in den Sinn. Oft stellt sich  die Frage, welche Therapie sinnvoll ist. Wir können als Ärzte ja auch nicht in die Zukunft schauen und das kann zum Konflikt führen, was dem Patienten alles zugemutet werden kann und soll. Manchmal betreuen wir Patienten, bei denen wir den Eindruck haben, dass ihre Situation für das Leben zu schlecht und zum Sterben zu gut ist.

Sie sprechen von „wir“. Wer steckt denn hinter diesem „wir“?
Büchner: Zum Glück bestehen unsere Teams aus unterschiedlichen Berufsgruppen. Von der Pflege, über die Physiotherapie bis hin zu den verschiedenen ärztlichen Fachrichtungen. Alle Beteiligten haben verschiedene Wahrnehmungen und Einschätzungen, was für den Patienten gut ist. Alle diese Blickrichtungen haben eine Berechtigung und sollten zusammengetragen werden.

Haben Sie eine bestimmte „Methode“, ein bestimmtes Vorgehen, wenn schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen?
Büchner: Als Methode würde ich es nicht bezeichnen. Aber es gibt Grundlagen für jede Therapie. Das beinhaltet sowohl den juristische Rahmen, als auch ethische Aspekte. Zum einen darf ich als Arzt keine Behandlung durchführen, die nicht dem aktuellen Stand der schulmedizinischen Erkenntnisse entspricht; ich darf aber vor allem nichts tun, was der Patient nicht ausdrücklich möchte. Hier ist in erster Linie der Wille des Patienten für uns handlungsweisend. Die Autonomie der Patienten wurde in den letzten Jahren auch vom Gesetzgeber zum Glück sehr gestärkt. Dann gilt es, die medizinisch sinnvolle Therapie anzuwenden, unter Berücksichtigung des aktuellen medizinischen Wissens. Gerade bei längeren Aufenthalten braucht es hier ein intensives Gespräch im Team und immer wieder mit den Angehörigen.

Was halten Sie von einer Patientenverfügung und was würden Sie mir diesbezüglich raten?
Büchner: Als gesunde Menschen erleben wir die Bilder, die wir von schwer kranken Menschen haben, die an Maschinen und Schläuche angeschlossen sind, oft als blanken Horror und natürlich ist unsere erste Reaktion: „So möchte ich nicht enden!“- Wenn ich aber nun in einer Patientenverfügung die „Apparatemedizin“ kategorisch für mich ausschließe, nehme ich mir vielleicht auch die Chance, eine schwere Erkrankung in überschaubarer Zeit gut zu überstehen. Daher verhindern diese Bilder manchmal ein differenzierteres Bild.
Als Patient entscheidet man vielleicht dann doch anders, als man es in seiner Patientenverfügung geschrieben hat, da man in der Akutsituation nicht selten bereit ist, noch manchen Weg zu gehen und Einiges auf sich zu nehmen, um zu überleben. Zudem ist es sehr schwierig, alle Situationen genauso zu beschreiben, wie sie dann eintreffen.  
Prinzipiell glaube ich, ist es gut eine Patientenverfügung zu haben, wegen der Auseinandersetzung mit den dazugehörenden Fragen und sie liefert dann doch oft Hinweise für den behandelnden Arzt. Wichtiger erscheint mir aber noch eine Vorsorgevollmacht, denn in dieser lege ich fest, wer an meiner Stelle für mich sprechen soll, wenn ich dazu nicht in der Lage bin.
Es ist also wichtig, Menschen zu haben und zu benennen, mit denen ich mich über schwierige Fragen und Therapiewünsche austausche und die dann auch für mich sprechen können.

Manchmal hört man, dass die moderne Medizin Segen und Fluch zugleich ist. Wie sehen Sie das?
Büchner: Ob ich es als Segen und Fluch bezeichnen würde, bin ich mir nicht sicher. Auf jeden Fall müssen wir unser Tun immer wieder gut überprüfen und verantwortlich mit den Fragen und Unsicherheiten umgehen. Wir haben heute viele gute Möglichkeiten, die Lebenserwartung und Lebensqualität zu steigern. Man denke an die Fortschritte in der Hygiene, bei Operationen, Antibiotika und anderen Therapien. Die Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation ist heute im Durchschnitt bei ca. 3 bis 5 Tagen und häufig können wir unseren Patienten helfen schwere Erkrankungen gut zu überleben. Wir müssen jedoch gleichzeitig sehr darauf aufpassen, dass wir unsere Möglichkeiten nicht nur dazu nutzen, das Sterben hinauszögern oder nur über eine gewisse Zeitspanne zu verhindern. Oft geht es um die ethische Frage: „Was dürfen wir dem Menschen zumuten, um etwas zu erreichen?“
In den hoch entwickelten Industrieländern geht es außerdem darum, dass wir lernen, Dinge nicht einfach nur deshalb zu tun, weil sie möglich sind. Es besteht die Gefahr einer Überversorgung und nicht zuletzt auch daraus erwachsend, der Kostenexplosion.

Die Palliativmedizin gewinnt immer mehr an Bedeutung. Was zeichnet diese Medizin aus und was ist das Ziel?
Büchner: Wenn das Grundleiden nicht behandelt werden kann und mittelfristig oder langfristig zum Tod führt, dann geht es, wie Cicely Saunders - die Begründerin der modernen Hospizbewegung - gesagt hat, nicht mehr nur darum, dem Leben mehr Tage hinzuzufügen, sondern den Tagen Leben zu schenken. Die verbleibende Zeit sollte eine möglichst gute Qualität haben.
Der Palliativmedizin geht es vielleicht mehr noch als der restlichen Schulmedizin darum, in dieser Lebensphase alle menschlichen Lebensbereiche, also die körperlichen, geistigen, seelischen und spirituellen Anteile des Daseins zu berücksichtigen. Wie können wir gerade in dieser Zeit gut mit Beziehungen, Ängsten, Einsamkeit, Nöten und den Grundbedürfnissen umgehen?
Somatisch medizinisch geht es in der Palliativmedizin oft um Symptomkontrolle, aber wie am vorher gesagten deutlich wird, ist die Palliativmedizin oder palliative care ein zwingend multiprofessioneller Ansatz, in dem vor allem die Pflege, aber auch Therapeuten und Seelsorger eine entscheidende Rolle spielen.

Intensivmedizin am LKH FeldkirchOft geht es in Ihrer Arbeit um Leben und Tod. Wie gehen Sie persönlich mit diesen schicksalshaften Lebensgeschichten um?
Büchner: Ich glaube, hier braucht es eine gute Selbstfürsorge und einen guten Ausgleich. Ziel ist es ja auch, selbst gesund zu bleiben und immer wieder einen Abstand zu bekommen. Ich rede viel mit meinem Team, den Pflegepersonen und anderen Ärzten. Zudem ist meine Frau auch Medizinerin und Psychotherapeutin, hier kann ich manches ansprechen. Es braucht eine gute Mischung von Nähe und Distanz zu den oft belastenden Situationen.
Ich finde es wichtig, den Patienten und Angehörigen nahe sein zu können, zuzuhören und Schweres mit auszuhalten.
Zugleich habe ich gelernt, dass nicht alles in meinen und unseren Händen liegt. Manchmal haben wir Patienten, die viele Komplikationen haben und ich mir denke, das ist nicht zu überleben und diese schaffen es dann doch. Bei anderen denke ich mir, wir haben alles im Griff und dann zerrinnt uns  das Leben der Patienten wie Wasser durch die Finger und sie sterben. Wenn ein Patient keinen Lebenswillen mehr hat, findet er einen Weg um zu sterben und wir kommen sehr schnell an unsere Grenzen. Bei aller Technik und allen Möglichkeiten die wir haben, wissen wir nicht alles was zwischen Himmel und Erde geschieht und können eben nicht Alles beeinflussen.  Ich persönlich finde es beruhigend, dadurch auch immer wieder die Erfahrung zu machen, dass wir eben nicht Gott sind und die Möglichkeiten unseres Handelns beschränkt sind.

Hat das Leben für sie durch die Arbeit auf der Intensivstation eine andere Bedeutung bekommen?
Büchner: Die vielen Jahre und vielen Erfahrungen auf der Intensivstation haben mich sicher nachhaltig geformt und geprägt, vor allem auch demütiger gemacht. Am Beginn meiner Arbeit wollte ich alle retten. Auch heute ist es mir wichtig, alles zu geben aber auch eine gute innere Haltung zu meinem Tun zu haben. Und hier hat mir ein zentraler Satz eines Dozenten in meiner Palliativausbildung sehr geholfen. Er sagte: „In der mittelalterlichen Medizin war die Heilung selten, die Linderung von Beschwerden und Schmerzen manchmal möglich, getröstet aber wurde immer.“ Heute hat sich das Verständnis und der Anspruch von Medizin sehr gewandelt: „Heilung ist der Normalfall und (fast) immer möglich, lindern tun wir nur (wenn es gar nicht anders geht), trösten sollen die Anderen.“
Für mich ist die Haltung und Möglichkeit, Menschen nicht alleine zu lassen und versuchen Trost zu spenden sehr wichtig. Natürlich will ich versuchen zu heilen wenn es geht und Not zu lindern. Aber was ich immer versuchen kann, ist Trost zu spenden und sei es nur, die Situation mit Patienten und Angehörigen auszuhalten. Hier haben wir als Ärzte vielleicht auch ein wenig eine seelsorgerliche Funktion. Daher halte ich es auch für sehr unglücklich zu sagen, „Wir können nichts mehr für Sie tun!“ oder „Wir brechen die Therapie ab!“ So schwierig die Situation auch ist, es geht hier um eine Therapiezieländerung, die erfordert, dass ich Patient und Angehörigen weiterhin beistehe.  Durch den Anspruch auf Heilung, empfinden wir es als Ärzte oft unbewusst als persönliches Versagen, wenn diese nicht gelingt. Wenn wir es schaffen, uns von diesem Anspruch frei zu machen, dann gelingt es uns vielleicht mehr Arzt im allumfassenden Sinn zu sein und nicht „nur“ ein Mediziner.

Wenn Sie am heutigen Tag auf die Corona-Zeit zurücksehen, wie würden Sie nächstes Jahr mit einer Pandemie umgehen?
Büchner: Wir können nur sehr bedingt von Zurückblicken reden können, da wir uns weiterhin in einer Pandemie-Situation befinden und auch noch eine lange Zeit sein werden. Wir haben glücklicherweise die sogenannte Hammerphase der Pandemie zunächst einmal gut überstanden und damit meine ich, dass unser Gesundheitssystem nicht zusammengebrochen ist, so wie wir es bei unseren unmittelbaren Nachbarn erleben mussten. Die Zeit, die uns zur Vorbereitung blieb und die Konsequenz mit der alle Bereiche unserer Gesellschaft zusammen gearbeitet haben, von der Politik über das Gesundheitswesen bis hin zur Bevölkerung, haben uns sehr geholfen und mich persönlich auch sehr beeindruckt.
Beachten sollte man glaube ich, dass wir uns in der Infrastruktur etwas weniger abhängig von außereuropäischen Ressourcen machen sollten, ich denke da z. B. an Medikamente und Schutzkleidung.
Mir persönlich hat die Pandemie noch einmal neu vor Augen geführt, wie zerbrechlich die Gleichgewichte sind, die wir als Menschen aufrecht zu erhalten versuchen, dass man Wachstum als oberstes Ziel sehr wohl in Frage stellen kann. Und dass wir in unserer menschlichen Zerbrechlichkeit gut beraten sind, hin und wieder inne zu halten und uns klar zu machen, was und wer uns wirklich wichtig ist und wie wir leben (und damit auch sterben) wollen.

(aus dem ZEITfenster Nr. 9 vom 28. Mai 2020)