Ist die Europäische Union eine Wirtschaftsmacht, eine soziale Hochburg oder am besten doch beides? Dieser Frage ging am Montag dieser Woche der Gesellschaftspolitische Stammtisch der Katholischen Kirche Vorarlberg im Kolpinghaus Dornbirn nach.

Dietmar Steinmair

Bei den letzten EU-Wahlen 2014 betrug die Wahlbeteiligung in Vorarlberg 39 Prozent. Auch beim Stammtisch in Dornbirn war der Publikumszuspruch dieses Mal überschaubar. Erstaunlich, ist die Europäische Union - politisch  und global betrachtet - eines der erfolgreichsten Projekte aller Zeiten. Nirgends in der Welt gibt es seit so vielen Jahren keinen Krieg mehr zwischen so vielen aneinandergrenzenden Nationen. Und nirgends in der Welt gibt es so große soziale Sicherheiten für so viele Menschen. Darüber waren sich die Diskutant/innen in Dornbirn auch einig - in den Detailbewertungen gingen die Meinungen wie immer auseinander.

Finanzkrisen. Franz Nauschnigg war bis zu seiner Pensionierung dieser Tage Leiter der Abteilung für Integrationsangelegenheiten und internationale Finanzorganisationen in der Österreichischen Nationalbank. In seinem Impulsreferat erklärte er die Mechanismen, die zu den Banken- und Finanzkrisen ab 2008 geführt hatten, und auch, wie die Staaten, die Europäische Zentralbank und die Nationalbanken diese durch Eingriffe, Geldmarktflutungen und Rettungsschirme überwunden hätten. Die Regulierung im Finanzsektor sei heute wieder deutlich größer als vor 2008. In der Frage, ob Europa eher ein Wirtschafts- oder ein Sozialprojekt sei, gab Nauschnigg zu bedenken, dass die Sozialpolitik auf nationaler Ebene entschieden werde - ebenso wie die Steuerpolitik. Die beste Sozialpolitik ist für ihn übrigens das Streben nach Vollbeschäftigung, wenn also möglichst viele Menschen Arbeit haben. Die Null-Zins-Strategie der EZB trage dazu bei. Diese habe die Konsumenten zu Ausgaben und die Wirtschaft durch günstige Kredite zu Investitionen motiviert.

Globale Herausforderungen. Irmi Salzer ist Mitarbeiterin des steirischen EU-Abgeordneten Thomas Waitz (Grüne). Die diplomierte Agraringenieurin wies darauf hin, dass in der EU trotz aller Erfolge immer noch Kinder hungern und im Mittelmeer immer noch flüchtende Menschen ertrinken. Im globalen Wettstreit der Kontinente sollte Europa nicht immer nur Erster sein wollen, sondern vielmehr als Vorbild und Beispielgeber vorangehen. Das ist auch Salzers Botschaft zur bevorstehenden EU-Wahl am 26. Mai. Es gehe darum, die Menschen zu überzeugen, dass es anders werden kann - und muss. Die im Augenblick medial sehr präsente Klimakrise zeige das deutlich.
Auf die globalen Herausforderungen wies auch Erwin Mohr (ÖVP) hin. Er war 24 Jahre lang Bürgermeister von Wolfurt und als Vertreter der Kommunen im Ausschuss der Regionen tätig, u. a. im Präsidium dieser beratenden Einrichtung der EU. Die USA, China und Russland seien keine Freunde Europas, sagte Mohr in Dornbirn. Die allergrößten Feinde der EU gebe es mit den Rechtspopulisten aber in Europa selbst, wie der laut Eigendefinition „immer noch schwarze“ Wolfurter mit Hinweis auf die türkis-blaue Bundesregierung sagte. Wenn die Europäer/innen nicht mehr an Europa glauben - siehe die niedrige Wahlbeteiligung - wer dann?
Herbert Bösch (SPÖ) war von 1995 bis 2009 Mitglied des EU-Parlaments. Finanziell-kapitalistisch funktioniere Europa gut. Das habe die Überwindung der Bankenkrise gezeigt. Ökologisch und sozial allerdings gebe es das gemeinsame Europa noch nicht. Gerade zu den sozialen Standards fehlen ihm momentan die Schlagzeilen, so wie Bösch überhaupt das bescheidene Niveau des derzeitigen EU-Wahlkampfes beklagte.

Kontinentale Verwobenheit. Gerade in Wirtschafts- und Steuerfragen aber ist das bislang praktizierte Einstimmigkeitsprinzip problematisch. Für Großkonzerne steuerlich attraktive Länder - wie Irland, Luxemburg, Malta, Zypern, aber auch Österreich und die Niederlande - stimmen einer Einschränkung ihrer Steuervorteile aus nationalem Interesse niemals zu, wie Erwin Mohr deutlich machte. Aber auch das „Europa der Regionen“ berge Gefahren. Damit Europa - siehe katalanische Unabhängigkeitsbewegung - durch Regionen-Nationalismus nicht in 300 Regionen zerfalle, brauche es den Föderalismus als „gut verstandenen Regionalismus“.
Über Europa kann man nicht diskutieren, als stünde man außerhalb. Europäer/innen waren schon immer miteinander verwoben und haben sich immer schon ausgetauscht, wie Moderator Thomas Matt deutlich machte: Selbst Jodok Fink, später bedeutender Politiker auf Bundesebene und Vizekanzler in der Frühzeit der 1. Republik, hat einmal einen Melkkurs in Dänemark besucht. «

Den Stammtisch zum Nachsehen gibt es hier. Der nächste Stammtisch findet im Herbst 2019 statt.

(Aus dem KirchenBlatt Nr. 19 vom 9. Mai 2019)