In seiner rede anlässlich der Verleihung des Internationalen Karlspreis am 7. Mai 2016 ging Papst Franziskus der Frage nach, wie es um Europa steht und was aktuell anzugehen ist. Dabei skizziert er die notwendigkeit, angesichts der umwälzenden Veränderungen „die Idee Europa zu ‚aktualisieren‘“. Der Kern dieser Aufgabe besteht für ihn darin, dass Europa einen „neuen Humanismus“ hervorbringt.

Die epochale Herausforderung.
Dass wir aktuell eine außerordentliche Phase in der Geschichte Europas erleben, ist offenkundig. Seit zwischenzeitlich eineinhalb Jahren beherrscht ein einziges Thema die europäischen Gesellschaften, nämlich die vielen Menschen, die vor Krieg, Zerstörung und Elend in Europa Zuflucht suchen. Im Gepäck dieses Hauptthemas sind viele andere große Themen mitgekommen, wie die Fragen nach Wohlstand und Armut und nach der gerechten Verteilung der Ressourcen – andernorts und auch bei uns. Die Situationen in den Ländern, aus denen die Menschen flüchten, sind nämlich wesentlich mitbedingt durch geopolitische Interessen und Einflussnahmen der westlichen Länder und durch ausbeuterische und zerstörerische globale wirtschaftliche Strukturen. Hineinverwoben in diese Entwicklungen ist das Erstarken des islamistischen Terrorismus, der punktuell auch nach Europa überschwappt.

Durch all das sind viele Systeme und Bereiche auch in unserem Land einer strapaziösen Belastungsprobe ausgesetzt, insbesondere auch der gesellschaftliche Zusammenhalt und die politischen Konzepte. Für viele Entwicklungen wirkt die Situation im Positiven und im Negativen geradezu wie ein Katalysator: Kooperationen, an die früher niemand auch nur gedacht hat, entstehen vom einen Tag auf den anderen, zugleich brechen Verteilungskämpfe los, die in Frage stellen, was über Jahrzehnte gewachsen ist und den sozialen Frieden in unserem Land gesichert hat. Abgründe tun sich auf, die man in dieser Tiefe nicht mehr gekannt hat (Stichwort: Hasspostings), aber auch neue Chancen treten an den Horizont.


Die christlich-humanistische Tradition Europas verpflichtet.
Oftmals hat man den Eindruck, dass Europa die grundlegenden Orientierungen seiner Geschichte verloren hat. Auch das führt Papst Franziskus in bestechender Klarheit vor Augen. Bei seinem Besuch auf der griechischen Insel Lesbos am 16. April 2016 erklärt er: „Die Sorgen der Institutionen und der Menschen hier in Griechenland wie auch in anderen Ländern Europas sind verständlich und berechtigt. Und doch darf man nie vergessen, dass die Migranten an erster Stelle nicht Nummern, sondern Personen sind, Gesichter, Namen und Geschichten. Europa ist die Heimat der Menschenrechte, und wer auch immer seinen Fuß auf europäischen Boden setzt, müsste das spüren können.“ Er ruft Europa damit seine Wurzeln in Erinnerung, die es bleibend in die Pflicht nehmen.

Mit der Ausrichtung an der Menschenwürde sind die großen Themen nicht aus der Welt – die begrenzten Auf nahmekapazitäten eines jeden Landes, auch Österreichs; die Bruchstellen in der Begegnung mit den Anderen und dem Fremden, das plötzlich Teil unserer Gesellschaft ist; die Herausforderung, zu teilen und Anteil zu geben an den Möglichkeiten des Lebens in unserem Land etc. Mit all diesen Wirklichkeiten braucht es einen nüchternen und verantwortungsvollen Umgang. Wer sich darum bemüht, wird auch sehen, dass manche behauptete Grenze im Konkreten nicht so objektiv und in Stein gemeißelt ist, wie man uns das glauben machen will – manche behauptete Realität ist nicht mehr als willkürliche Setzung. Aber es bleibt, dass es reale Grenzen gibt. Es muss jedoch möglich sein, sich mit begrenzten Möglichkeiten auseinanderzusetzen, ohne die geflüchteten Menschen als dumpfe Masse und Gefahr für unseren Wohlstand zu diffamieren.

Vielleicht sollten wir uns als Gesellschaft offener mit der Ohnmacht beschäftigen, in die uns die ganze Situation geführt hat. Verdrängte Ohnmacht entlädt sich leicht als Abwertung der Anderen. Wir müssen uns jedenfalls neu ausrichten am Angelpunkt unserer christlichhumanistischen Tradition: im Anderen einen Menschen zu sehen, ein Ebenbild Gottes, und berührbar zu sein für seine konkrete Bedürftigkeit. Wir werden dann mit Sicherheit die Diskurse anders führen und auch manches anders lösen. Oder muss es uns nicht zu denken geben, wie Europa sich damit abgefunden hat, dass die Außengrenze im Mittelmeer zu einer Grenze des Grauens und des Todes geworden ist? Papst Franziskus hat bei seinem ersten Besuch auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa vor einer „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ gewarnt – sie ist das Gegenteil der Liebe.


Zusammenhalt und den Dialog fördern, woimmer es geht.
Angesichts der vielen polarisierenden Tendenzen in unserer Gesellschaft besteht eine der großen Herausforderungen unserer Tage darin, den Zusammen halt zu stärken – zwischen den verschiedenen Gruppen in der „einheimischen“ Bevölkerung ebenso wie zwischen schon länger hier ansässigen und den geflüchteten und zugewanderten Menschen. Als „Zeichen und Werkzeug“ der „Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen Gentium 1) hat die Kirche hier einen besonderen Auftrag. Der Weg führt über den Dialog. Wir brauchen eine Kultur des Dialogs und die damit verbundenen Prozesse gemeinsamen Lernens, um das soziale Gefüge in vielen Bereichen neu aufzubauen. Dialog heißt, den Anderen als ebenbürtigen Gesprächspartner anzuerkennen, als Subjekt, dem man Respekt entgegen bringt und dem man zuhört, auch wenn man anderer Meinung ist. Wir brauchen heute mehr denn je konkrete Erfahrungen, dass wir alle gemeinsam ein Wir sind, und dass dieses Wir ein Reichtum ist. Das weite Netzwerk der Pfarren und der anderen kirchlichen Einrichtungen kann hier viel beitragen. Der Dialog beginnt damit, dass man die alten Schablonen beiseitelegt und die Dialogpartner/innen aus den Denkschubladen befreit, in denen man sie versorgt hat. In diesem Sinne sollten wir auch aufhören, die Menschen in die Guten und die Bösen zu unterteilen. Das ist auch der Wirklichkeit viel näher. In den meisten von uns lebt beides: die Bereitschaft zu helfen und zu teilen, wo Not begegnet, ebenso wie manch sorgenvolle Frage. Dieses ehrliche Eingeständnis ist die Basis für einen wirklichen Dialog, in dem sich jener Zusammenhalt vermittelt, der trägt, das wir heute brauchen.


Konkrete Integrationswege gehen und begleiten.
Integration meint letztlich, Möglichkeiten zu schaffen, damit alle Bewohner/innen ihr Leben in Würde gestalten können. Dafür braucht es vielschichtige Lernprozesse, in denen individuelle und gesellschaftliche Teilhabe und Teilgabe wachsen können. Wohnen, Spracherwerb/Bildung, Arbeit, Beziehungen/Werte/Religion sind die Brennpunkte dieser Integrationsprozesse. Sie brauchen Großzügigkeit und Geduld. Sie fordern viel und sind nicht nur schnell und leicht zu haben, allerdings gilt auch: Was heute nicht investiert wird, fällt früher oder später wesentlich teurer zur Last. Und das wohl Wichtigste sind Wohlwollen und Vertrauen. Einmal mehr zählen also die alten christlichen Tugenden. Am Ende des Tages werden wir sehen: Vieles ist zu schaffen!

Walter Schmolly
Direktor der Caritas Vorarlberg