Vorab die schlechte Nachricht für alle Fans einer kontrovers geführten Debatte: Es gab nicht viele Themen, bei denen sich die beiden Diskutanten Anton Pelinka und Gerald Loacker uneinig waren. Der ursprüngliche Plan der Veranstalter, hier eine hitzige Diskussion zwischen einem sozialdemokratisch verwurzelten Politikwissenschaftler und einem neoliberalen Neos-Spitzenvertreter anzuzetteln, war definitiv gescheitert.

Was den Abend dennoch zu einem Erfolg machte, waren zum einen die größeren politischen und sozialen Zusammenhänge, die aufgezeigt und diskutiert wurden und zum anderen eine für dieses Format neue Diskussionsmethode. Um auf Augenhöhe miteinander zu diskutieren und gerade auch Beiträgen aus dem interessierten Publikum ein höheres Gewicht zu verleihen, wurde die „Fish-bowl-Methode“ angewandt. Die Leute saßen alle gleichberechtigt im Kreis und bekamen die Gelegenheit, durch Platznehmen am Diskussionstisch in der Mitte des Raumes ihre Statements oder Fragen direkt einzubringen.

Österreich als „Insel der Seligen“?
Es war wahrlich eine andere Zeit, fast möchte man sagen, eine andere Welt, als Papst Paul VI. 1973 Österreich als eine „Insel der Seligen“ bezeichnete. Anton Pelinka eröffnete sein Impulsreferat mit diesem Papst-Zitat, um deutlich zu machen, wie sehr und wie schnell sich die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für das kleine Österreich verändert haben. Österreich wusste seine geopolitische Lage in der damaligen Zeit gut zu nutzen. Als neutrales Land profitierte Österreich vom Jahrzehnte andauernden Wirtschaftswachstum und konnte geschickt seine Vermittlerrolle zwischen den Blockmächten zur Geltung bringen.
Heute, 45 Jahre später, so Pelinka, sei die Situation eine völlig andere. Österreich sei in keinster Weise eine „Insel“, weil völlig integriert in den europäischen Integrationsprozess. Auch die Vermittlerrolle, so gerne diese auch heute wieder als politische Aufgabe Österreichs ins Treffen geführt werde, sei im Grunde keine mehr.

Pelinkas erste These
Die zentrale These, die Prof. Pelinka an diesem Abend mehrfach ausgeführt und vertieft hat, ist folgende: Auf lange Sicht lassen sich die Errungenschaften und Leistungen unseres weltweit gerühmten Sozialstaats nur dann aufrecht erhalten, wenn die Grundprinzipien des Systems von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert werden. Hierfür braucht es ganz nach den Vorstellungen etwa des französischen Präsidenten Emmanuel Macron z.B. eine europäische Finanz- und Fiskalpolitik, ein europäisches Steuersystem also, das die politische Handlungsfähigkeit gewährleisten soll. Wir brauchen nach Pelinka ein Mehr an Europa, um unsere österreichischen Standards halten zu können. Der Nationalstaat sei in einer globalisierten Welt auf Dauer nicht in der Lage, seine politische Handlungsfähigkeit zu bewahren.

Die Starken, die Schwachen und die Solidarität
Eine zweite These verdeutlicht, worum es Pelinka im Kern geht: Unser Sozialsystem baut darauf auf, dass die besser Gestellten, die Privilegierten, diejenigen, die es „geschafft“ haben, die mehr Geld als viele andere besitzen auch mehr Geld ins System einzahlen. Unser progressives Steuersystem ist gewissermaßen das Herzstück einer solidarischen Sozialpolitik, wo die Starken für die Schwachen einspringen, wenn diese sich z.B. eine teure Operation oder lebenswichtige Medikamente nicht leisten könnten. Genau diese Idee eines solidarischen Sozialsystems unterscheidet Österreich von Ländern wie den USA, in denen ärmere Bevölkerungsschichten keine Chance auf die beste medizinische Behandlung haben.

Solidarität bedeutet im Sinne Pelinkas eben nicht, dass ich gerechterweise das aus dem System heraus bekomme, was ich einbezahlt habe, sondern dass ich je nach Gehalt unterschiedlich viel dazu beitrage, dass der Staat für alle Menschen dieselben Leistungen zur Verfügung stellen kann. Auf die europäische Ebene übertragen hieße das, dass z.B. die Indexierung der Familienbeihilfe, wie es die Regierung Kurz vorsieht, gegen dieses Prinzip verstoßen würde. Die Starken leisten einen höheren Beitrag, damit die Schwächeren dieselben Chancen und Möglichkeiten bekommen – dieses Prinzip gilt für Österreicher, Deutsche, Spanier wie auch für Bulgaren und die restlichen EU-Bürger/innen. Es gilt im Bereich der Krankenversicherung in Österreich genauso wie für die Aufbauarbeit in EU-Ländern des ehemaligen Ostblocks.

Gerald Loacker und die Pensionen
Wie wichtig die Weiterentwicklung unseres Sozialsystems heute ist, verdeutlichte NRAbg. Gerald Loacker von den Neos anhand eines seiner Spezialgebiete: der Reformbedürftigkeit unseres Pensionssystems. Er kritisierte dabei scharf das aktuelle Vorhaben der Regierung, wonach nach 40 Beitragsjahren automatisch eine Mindestpension von 1200 Euro gezahlt werden solle. Es sei verantwortungslos, weil nur auf Kosten der kommenden Generationen finanzierbar, wenn unabhängig von der Höhe der Beitragszahlungen nach 40 Jahren automatisch 1200 Euro ausgezahlt würden.

Die Schweden machen’s besser
Grundsätzlich sieht Loacker zumindest zwei Faktoren, die den Reformbedarf in diesem Bereich dringend anzeigen: Deutlich längere Ausbildungszeiten gepaart mit einer stetig steigenden Lebenserwartung ergeben im Vergleich zu früher deutlich weniger Beitragsjahre und deutlich längere Pensionszeiten. Das, so Loacker, könne sich auf die Dauer einfach nicht ausgehen. Österreich sei im Spitzenfeld, was die außerordentlichen Budget-Zuschüsse für das Pensionssystem betrifft. Und die Österreicherinnen und Österreicher würden so früh in Pension gehen, wie niemand anders in Europa. Man habe es fahrlässig verabsäumt, die gesellschaftlich-sozialen Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen und das System anzupassen. Die Schweden beispielsweise hätten das frühzeitig erkannt und bereits 1994 mit dem Umbau des Pensionssystems begonnen. Dieses Projekt sei nun nach über 20 Jahren abgeschlossen und bringe für das Land große Vorteile.

Die Gretchenfrage zum Schluss
Laut Pelinka können wir die Frage, ob unser Sozialstaat, unser ganzes Sozialsystem zukunftsfähig ist, an dem beurteilen, wie dieser Sozialstaat entstanden ist. Es wurden nach der Katastrophe des zweiten Weltkrieges persönliche Eigeninteressen zugunsten der Erschaffung eines „größeren Ganzen“ hinten angestellt. Heute stellt sich die Frage, ob wir in Vorarlberg, in Österreich oder auch in Europa bereit sind, zugunsten eines „großen Ganzen“, das mit sozialem Frieden, Chancengleichheit und sozialer Absicherung zu tun hat, persönliche Abstriche zu machen. Reflexartige Meldungen unserer lokal und national verantwortlichen Politiker, wonach der Beitrag Österreichs für die Europäische Union aufgrund des Brexits „sicher nicht erhöht“ werde, lassen vermuten, dass es mit dem Blick auf das „große Ganze“ bei uns nicht weit her ist.
Schade, wenn man dadurch womöglich das großartigste Friedens- und Wohlfahrtsprojekt in der Geschichte der Menschheit aufs Spiel setzt.

Dr. Michael Willam
EthikCenter


Die Werkstattgespräche sind eine Veranstaltungsreihe, die regelmäßig sozialpolitische und Themen der Arbeit und Wirtschaft aufgreift und von folgenden Organisationen getragen wird:
EthikCenter der Diözese Feldkirch; ÖGB; Grüne Bildungswerkstatt; Renner Institut; ATTAC; Weltläden und Südwind